ST.GALLEN. Hisham Maizar gilt als einflussreichster Moslem der Schweiz. Das Sprachrohr des Islams ist eng mit der Ostschweiz verbunden. Seit 44 Jahren lebt der Arzt hier – seit 1982 besitzt er das Bürgerrecht der Gemeinde Berg.
Der Grosszügige, der Entgegenkommende oder auch einer, der Mitmenschen schätzt und von ihnen geschätzt wird. So übersetzt Hisham Maizar seinen arabischen Vornamen – so würden ihn auch viele beschreiben, die ihn privat oder beruflich kennengelernt haben. Der Präsident der Föderation Islamischer Dachverbände in der Schweiz (Fids) ist offen, eloquent, und nimmt sich Zeit für sein Gegenüber. Das Gespräch in seiner Wohnung in Rotmonten dauert über vier Stunden. Mehrmals serviert der 73-Jährige Kaffee und Kuchen, den seine Schwester gebacken hat.
Der Gastgeber erzählt von seiner Kindheit in Jerusalem von seiner «Odyssee durch Europa», die ihn letztlich in die Ostschweiz führte, und wie er wegen eines Hirtenbriefes von Bischof Ivo Fürer im Tagblatt zum Interessenvertreter des Islams in der Schweiz avancierte. Zwangsläufig fällt das Stichwort Kopftuchverbot. «Jede Frau, jedes Mädchen soll selber entscheiden, ob sie oder es den Kopf bedeckt. Ihre Eltern sollen ihr beratend beistehen», sagt Maizar.
Er holt den italienischen Pass seiner Schwester hervor. Sie war mit dem palästinischen Sekretär der italienischen Botschaft in Amman verheiratet. Auf dem Passfoto ist sie mit Kopftuch abgebildet. «Sehen Sie, es gibt solche und solche Einstellungen.» Dann wird Maizar energisch. Er kritisiert die rechtspopulistischen Kräfte, nicht nur in der SVP. «Sie kennen den Islam nicht oder noch nicht. Sie können nicht behaupten, dass ein Kopftuch für die Ausübung unserer Religion nicht wichtig ist. Das ist eine von Allah und den Propheten übertragene Auflage», sagt er und zitiert aus dem Koran und der Sunna. Maizar ärgert sich aber vor allem, weil bisher kein breiter Dialog mit den Moslems stattgefunden hat. «Die Rechtspopulisten schüren mit ihrer stereotypischen Propaganda nur antiislamische Ressentiments und damit Fremdenfeindlichkeit.»
Die harsche Reaktion ist für Hisham Maizar insofern typisch, als dass Ungerechtigkeiten und Böswilligkeiten ihn zutiefst treffen. Dennoch hat er seine Emotionen im Griff. Dann zeigt sich der Mediziner, der Mann der Wissenschaft in ihm. Er sei eher ein Kopfmensch, sagt er. So numeriert er seine Argumente mit «erstens, zweitens...» häufig durch. Grundsätzlich sind ihm extreme Positionen zuwider – nicht nur die der SVP, sondern auch jene, die der Islamische Zentralrat der Schweiz eingenommen hat.
Maizar gilt als Mann der Mitte, als Vermittler, als bürgerlicher Moslem. Er ist der Vertreter des islamischen Mainstreams und setzt auf den interreligiösen und gesellschaftlichen Dialog. Dieses Anliegen will er mit dem Schweizerischen Rat der Religion verstärkt fördern, den er seit Anfang Jahr präsidiert.
Die Offenheit Andersgläubigen gegenüber hat Maizar als Kind gelernt. Die Familie lebte vor, dass Religion da sei, «um Menschen zu einem friedvollen Verhalten gegenüber anderen und der Umwelt zu verhelfen». Aufgewachsen ist er mit drei Brüdern und fünf Schwestern in einer palästinensischen Familie in Jerusalem. Zwischen zwei Schlucken Espresso schwärmt er von seiner Kindheit und dem unbeschwerten Umgang mit Nachbarskindern, darunter viele Christen. «Dazumal realisierten wir nicht, dass sie einen anderen Glauben hatten. Die kindlichen Prioritäten waren bestimmend und prägend.»
Wie sein Vater ist Hisham Maizar ein praktizierender Moslem: Fünfmal am Tag betet er – ein Digital-Muezzin im Laptop oder im Smartphone erinnert ihn an seine Pflichten. Einmal unterbricht er das Gespräch, um im Nebenzimmer zu beten. «Der Glaube gibt mir Halt», sagt er nach seiner Rückkehr. Dann erzählt er von seinem Vater, der ein Lederwarengeschäft besass. Die Frage, ob es der jüngste Sohn einmal übernehmen würde, stellte sich nie. «Bildung war in unserer Familie wichtig», sagt er. Alle Brüder und die Mehrheit der Schwestern studierten. Hassan, der Älteste, der es bis zum Präsidenten des jordanischen Berufungsgerichts brachte, war Hisham Maizars Vorbild und Mentor, vor allem nach dem frühen Tod des Vaters. «Judge Maizar» war es, der ihm den Weg nach Europa ebnete. Dank guter Kontakte zum Botschafter erhielt Hisham Maizar ein Slawistik-Stipendium in Sarajevo. Im Vielvölkerstaat zeigte sich aber bald, dass trotz Sprachtalent der ursprüngliche Studienwunsch – Medizin – der richtige war. «Die schwere Krankheit meines Vaters hat mich geprägt. Als Arzt wollte ich Menschen helfen.»
Maizar zog nach Deutschland, in Heidelberg begann er mit dem Medizinstudium. Mit Nebenjobs – er arbeitete unter anderem als Nachtwache-Helfer im Spital – hielt er sich über Wasser. Die hohen Kosten jedoch trieben ihn an die günstigere Uni in Innsbruck, wo er 1969 sein Studium abschloss. Während seiner Tiroler Studienzeit kam er erstmals mit der Schweiz in Kontakt. Just im St. Galler Rheintal, wo derzeit die Kopftuchdebatte tobt, fand er als Student vor der Approbation eine Anstellung: Er durfte einen Balgacher Landarzt während den Ferien vertreten. Mühe bereitete ihm zu Beginn der Dialekt. «Als Doktor Guy Jenny bei meiner Ankunft fragte, <Häsch scho Znacht kha>, verstand ich nichts», erinnert sich Maizar und lacht. Bis zum Ende des Studiums vertrat er den Arzt 26mal, wie Maizar minutiös vorrechnet.
In der Schweiz liess sich Maizar schliesslich ganz nieder. Am Kreuzspital in Chur und in der Höhenklinik in Davos vertiefte er seine medizinischen Kenntnisse. Als Aspirant für Innere Medizin wechselte er nach Altstätten und dann nach St. Gallen. Sieben Jahre war er am Kantonsspital tätig, zuletzt als Oberarzt für Nierenkrankheiten, bevor er in Roggwil eine Praxis übernahm. Dort blieb er 30 Jahre lang. 1982 erhielt er das Bürgerrecht der benachbarten Gemeinde Berg.
Ihm stets zur Seite stand seine Frau, eine streng katholische Zillertalerin, die er 1967 geheiratet hatte. Auch bei der Erziehung der drei Kinder zeigte sich Maizars Toleranz. «Wir haben sie im Geiste beider Religionen und Kulturen erzogen.» Zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau zügelte er 2010 nach St. Gallen. Die Verbundenheit zur Stadt ist seit der Zeit im Kantonsspital gross. «Eine Bratwurst esse ich wegen des Schweinefleischs dennoch nicht», sagt er und lacht wieder. Besuchern würde er erstens die schmucke Altstadt mit Stiftsbibliothek und Dom zeigen, und zweitens würde er sie darauf aufmerksam machen, dass Gallus und der Prophet Mohammed Zeitgenossen waren. Maizar liebt Geschichten und Geschichte. Mit Genuss erzählt er, dass der Islam in der Region älter als die Eidgenossenschaft sei. So hätten im zehnten Jahrhundert die Sarazenen, ein arabischer Volksstamm, Gebiete der heutigen Schweiz bewohnt. «Pontresina, – die Brücke der Sarazenen – zeugt davon.»
In St. Gallen findet sich der Ursprung seiner Karriere als Sprachrohr des Islams. Der zweideutige Satz von Bischof Fürer im Tagblatt – «Achtung vor dem Islam» – führte sie 2002 zusammen. «Während des zweistündigen Gesprächs wies er mich darauf hin, dass es zwar viele Moslems gebe, aber diese nicht mit einer Stimme reden würden», erinnert sich Maizar. Die Idee trug Früchte: 2003 wurde der Ostschweizer Dachverband islamischer Gemeinden (Digo) gegründet. 2006 schlossen sich die Dachverbände zu einer nationalen Föderation zusammen. Maizar ist bis heute Präsident beider Organisationen.
In seiner Wohnung brennt mittlerweile das Kunstlicht. Die Stadt versinkt hinter den Fensterscheiben im Dunkeln. Maizar betont, dass er den Islam und nicht die einzelnen Moslems im Land vertrete. Die Ängste der Schweizer Bevölkerung gegenüber seiner Religion kann er nachvollziehen. Es gebe deutlich mehr Moslems als früher. Zwischen 1960 bis heute stieg die Zahl von 16 000 auf 450 000 – und die zweite Generation trete selbstbewusster für ihre Rechte ein. «Die Sicht- und Wahrnehmbarkeit ist deutlicher». Die diffusen Ängste führt er auf Unkenntnis und auf die bisher mangelnde Bereitschaft zum konstruktiven Dialog zurück.
Der Arzt lebt nun seit 44 Jahren in der Ostschweiz. Die Stimmung gegenüber dem Islam habe sich verschlechtert. Der Bruch erfolgte 2001. «Nach dem elften September gerieten wir alle unter Generalverdacht.» Die Abstimmungen über das Minarett- oder das Burka-Verbot als Stellvertreter-Debatten hätten das Klima weiter vergiftet. Die deutlich werdenden antiislamischen Tendenzen würden im In- und Ausland registriert – sie seien polarisierend und kontraproduktiv. Jede fehlende Toleranz führe über kurz oder lang zu einer Radikalisierung. Ein Dialog sei dann nicht oder kaum möglich. «Und ohne Dialog können wir die gesellschaftlichen Probleme nicht gemeinsam lösen.»