Folter, sexuelle Gewalt oder der Verlust von Angehörigen: Menschen auf der Flucht haben oft Schreckliches durchgemacht. Bei der Gravita, einem spezialisierten Therapiezentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes, lernen sie, die Erlebnisse zu verarbeiten.
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In manchen Nächten bebt es in seinem Kopf. Dann wackelt das Bett und Mustafa Çigci ist plötzlich wieder da: in der türkischen Stadt Izmit, in den frühen Morgenstunden des 17. August 1999. Als die Erde für 45 Sekunden bebte, Städte in Trümmer legte und dabei 18000 Menschen in den Tod riss. Mustafa Çigci, damals 14 Jahre alt, verlor beim Beben von Gölcük Vater und Bruder. Und beide Beine unterhalb der Knie. Seither geht er auf Prothesen durchs Leben. Und mit Erinnerungen, die ihm heute noch den Schlaf rauben.
Mit dem Verlust seiner Beine scheint sich der 32-Jährige abgefunden zu haben. «Ich habe in der Türkei Rollstuhlbasketball gespielt, bin Velo gefahren und Marathon gelaufen», erzählt der gross gewachsene Kurde im Ergotherapieraum der Gravita. Das Therapiezentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes im dritten Stock der St.Galler Hauptpost ist auf die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge spezialisiert. Seit fünf Monaten besucht Çigci hier die Tagesklinik, um seine Traumata zu verarbeiten. Dazu gehört neben dem Erdbeben auch das Ereignis, das ihn vor 13 Monaten zur Flucht aus der Türkei bewog: An einer Kundgebung gegen die Inhaftierung kurdischer Politiker wurde er in Istanbul von Polizisten spitalreif geprügelt. «Der türkische Staat lässt Kurden verschwinden. Meine Mutter hat sich nach dem Vorfall grosse Sorgen um mich gemacht», sagt Çigci. Deshalb flüchtete er in die Schweiz.
Flüchtlinge wie Mustafa Çigci kommen oft mit wenig mehr als den Kleidern an ihrem Körper hierher. Trotzdem tragen sie eine schwere Last mit sich, wenn sie ankommen. Naturkatastrophen, Kriegsgräuel und Folter in der Heimat, Vergewaltigungen, Misshandlungen, der Tod von Angehörigen auf der Flucht – das Grauen gräbt tiefe Wunden in die Psyche vieler Geflüchteter. Schätzungen zufolge leiden bis zu 50 Prozent aller Flüchtlinge unter einer psychischen Störung. Sie alle zu behandeln, ist nicht möglich: Schon 2013, also noch vor dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015, schätzte eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, dass in der Schweiz 500 Therapieplätze dafür fehlen. Spezialisierte Hilfe bietet in der Schweiz zwar der Verbund «Support for Torture Victims» an. Die Kapazitäten der fünf Therapiezentren, darunter die Gravita, sind jedoch beschränkt. Das zeigt sich etwa beim Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer am Universitätsspital Zürich: Dort schwankte die Wartezeit für eine Behandlung in den letzten Jahren zwischen sechs und achtzehn Monaten.
Etwas besser ist die Situation bei der Gravita. Einen Monat müssen Flüchtlinge im Schnitt warten, bis sie einen der 30 Therapieplätze in der Tagesklinik erhalten, sagt Jan Reuter, Psychiater und ärztlicher Leiter des Zentrums. Er spricht nicht gerne von einer Warteliste. «Bei einem Notfall ist eine Therapie immer sofort möglich.» Gerade in der ambulanten Behandlung könne man immer einen ersten Termin anbieten. Allerdings mit der Folge, dass mit der zunehmenden Anzahl Patienten die Behandlungsfrequenz für die Einzelnen abnimmt – und sie einmal pro Monat statt wöchentlich in die Therapie können.
Für Reuter ist klar: «Zu wenige der traumatisierten Flüchtlinge erhalten Hilfe.» Das liegt für den Leiter des Therapiezentrums jedoch nicht nur an der begrenzten Zahl von Behandlungsplätzen. «Oftmals wissen Flüchtlinge gar nicht, dass es ein solches Angebot gibt.» Dazu komme bei einigen ein Misstrauen gegenüber Behörden und Institutionen – «wenn sie etwa in ihrer Heimat Gewalt und Misshandlungen durch den Staat erlebt haben.» Auch organisatorische Hürden stehen einer psychotherapeutischen Behandlung manchmal im Weg: die teils weite Anfahrt vom Asylzentrum; die mangelnde Zeit, weil Kinder betreut, eine Sprachschule oder andere Integrationskurse besucht werden müssen.
Und dann ist da noch die Scham. «In einigen Kulturen sind psychische Krankheiten stark stigmatisiert», sagt Reuter. Aus Angst, als verrückt zu gelten, nähmen insbesondere Flüchtlinge aus dem arabischen und afrikanischen Raum keine psychologische Hilfe in Anspruch.
Bei der Gravita lernen Migrantinnen und Migranten hingegen, offen über ihre psychischen Probleme zu reden. Nicht nur in Einzelgesprächen mit Psychiater oder Psychologen – auch in der Gruppe mit anderen Patienten. Etwa in der Psychoedukation, in der verschiedene Themen wie Depression, Schmerzen, Aggression oder Trauer behandelt werden.
Acht Flüchtlinge aus Eritrea, der Türkei und Afghanistan sitzen an diesem Mittwochvormittag in einem der Therapieräume auf Stühlen im Kreis. In ihrer Mitte liegen auf einem Teppich verschiedene Gegenstände und Bilder, die veranschaulichen, was Psychologin Angelika Ossowski und Gravita-Leiter Jan Reuter vermitteln wollen. Die Patienten sprechen zu wenig Deutsch, um über ihre Gefühle reden zu können. Drei junge Dolmetscherinnen übersetzen gleichzeitig, so dass sich Deutsch, Farsi, Türkisch und eritreisches Tigrinisch zu einem eigentümlichen Klangteppich verweben. In den rund zwei Stunden wird dieses Mal ein Problem besprochen, das viele der Anwesenden plagt: Schlaflosigkeit. Eine Eritreerin erzählt, dass sie in der Nacht bloss drei Stunden geschlafen habe. Der Gedanke an ihre Tochter, die sie in Eritrea zurücklassen musste und seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat, lässt sie nicht los. Ein junger Afghane berichtet von Albträumen – der endlose Krieg in seiner Heimat verfolgt ihn im Schlaf. Eine Landsfrau des jungen Mannes schildert von den ständigen Schmerzen in Kopf und Beinen. «Schlechter Schlaf und Schmerzen hängen eng zusammen», erklärt Jan Reuter der Gruppe. Die Ursachen für beides: Stress, Sorgen, Ängste, Unsicherheit. Gemeinsam sucht die Gruppe nach Möglichkeiten, die negativen Gedanken und Gefühle zu durchbrechen: Musik hören, eine Dusche nehmen, ein Entspannungsöl auftragen.
Schlaflosigkeit und chronische Schmerzen sind häufige Begleiterscheinungen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), unter der ein Grossteil der Flüchtlinge leidet, die bei der Gravita in Behandlung sind. Zu den Symptomen einer PTSB gehören Alb- und Tagträume oder Flashbacks, in denen der Krieg, die Folter, die Vergewaltigung erneut durchlebt wird. Gewisse Trigger, etwa Sirenen oder der Geruch nach verbranntem Fleisch, können die Erinnerungen auslösen. Betroffene versuchen deshalb, alle Situationen und Sinneseindrücke zu vermeiden, die sie an das Trauma erinnern könnten. Die Folge: ein – in gewissen Fällen vollständiger – Rückzug aus der Gesellschaft. Hinzu kommen weitere psychische und körperliche Störungen: Depressionen, Schreckhaftigkeit, eine ständige körperliche Anspannung, die zu chronischen Schmerzen führt.
Trotzdem kann es Jahre dauern, bis eine PTBS diagnostiziert und behandelt wird. «Wir haben Patienten aus Ex-Jugoslawien, die das Kriegstrauma, das sie als Jugendliche erlebt haben, erst jetzt verarbeiten», sagt Reuter. Einige Betroffene verdrängen das Trauma über Jahre, bei anderen wird es vom Hausarzt oder dem Personal der Asylheime nicht als solches erkannt. «Bei Flüchtlingen, bei denen es zu aggressivem oder suizidärem Verhalten führt, wird ein Trauma normalerweise rasch festgestellt.» Bei Menschen, die ihr Leiden dagegen in sich hineinfressen, bleibe es oftmals unbemerkt. Doch eine Belastungsstörung, die nicht behandelt wird, ist nicht nur quälend für die Flüchtlinge – sie verunmöglicht auch ihre Integration. «Betroffene isolieren sich, werden zu Aussenseitern der Gesellschaft», sagt Reuter. Isolation und eine fehlende soziale Rolle führten wiederum dazu, dass sich das psychische Leiden verstärke.
Ein Teufelskreis, der bei der Gravita durchbrochen werden kann – nicht nur durch die Therapie. «Ich habe hier einen Tagesablauf. Und ich kann Kontakte knüpfen, Gespräche führen, zeichnen», sagt Mustafa Çigci. Im Asylheim dagegen könne er nicht viel tun, ausserdem dürfe er nicht arbeiten. «Da sind nur ich und meine Gedanken.»