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Ostschweiz
Messies – Leben im Chaos (1): Seit vielen Jahren lebt eine betagte Frau als Messie. Mehrere Wohnungen wurden ihr deswegen schon gekündigt. Nun versucht sie das Chaos in ihrem neuen Heim einigermassen im Zaum zu halten.
Humor hat die Frau. «Haben Sie wirklich nichts vergessen?», fragt sie den Besucher bei der Verabschiedung. Schelmisch fügt sie an, bei ihr daheim bemerke man eben nur sehr schwer, ob man aus Versehen etwas liegengelassen habe.
In diesem kleinen, mit tausend Dingen vollgestopften Universum in einer Gemeinde im Kanton St.Gallen lebt die Frau seit kurzer Zeit. Ihre vorherige Wohnung hat sie verloren. Es ist das sechste Mal, dass sie gehen musste – oder gar schon das siebte Mal? Ganz genau weiss sie das nicht mehr.
Der Auslöser für die Kündigungen war immer derselbe: das Messie-Syndrom, welches das Verhalten der Frau seit Jahrzehnten bestimmt und das jeweils erst im Zuge von Umbau- oder Renovierungsarbeiten aufgefallen sei, wie sie sagt.
Begonnen hat alles in ihrer Kindheit. Die Mittsiebzigerin erinnert sich:
«Ich wurde streng erzogen, wuchs quasi in einem Glashaus auf.»
Ihre ordnungsliebende Mutter habe immer für sie aufgeräumt. Dazu gab es Bemerkungen wie «Ich mache das schon» oder «Du bist sowieso zu langsam dafür.»
Wesentlich schlimmer für das Teenager-Mädchen: Immer, wenn es von der Schule heimkam, fehlte etwas im Zimmer – die Mutter entsorgte hinter dem Rücken der Tochter dauernd persönliche Dinge, nicht einmal vor Liebesbriefen machte sie bei ihren unangekündigten Aufräumaktionen Halt. Als Übergriffe habe sie das jeweils empfunden, sagt die Frau.
Bis über 40 habe sie den immer gleichen Albtraum gehabt. Inhalt: Zitternd vor Angst, erwischt zu werden, wühlte sie in einem stinkenden Abfallkübel; sie suchte darin Dinge, die man ohne ihr Einverständnis weggeworfen hatte.
Mit 22, sie war wegen zu späten Heimkommens an einem Abend ausgesperrt worden, verliess die Frau ihr Elternhaus. Sie galt als intelligent, belesen, hatte einen Kanti-Abschluss im Sack, sang leidenschaftlich gern und gut. Einen Brotberuf hatte sie aber nicht.
So schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs in Zürich durch, fing ein Archäologiestudium in Basel an – und wurde mit 33 nach einer Affäre Mutter. In den folgenden Jahren erledigte sie teils zwei Jobs parallel, um ihren Buben und sich über Wasser zu halten.
Schon als Teenager war es der Frau schwergefallen, sich von Dingen zu trennen. Von einer Wochenzeitschrift hatte sie jeweils die Titelblätter abgerissen und diese archiviert. Nun, als alleinerziehende Mutter, wuchs ihr rasch alles über den Kopf. Sie sortierte nichts mehr aus, räumte nicht mehr auf, warf nichts mehr weg. Die Frau blickt zurück:
«Mein Sohn und ich ernährten uns von Brot, Konfitüre und Corn-Flakes, und zwar im Bett. Weil nirgendwo ein Platz mehr frei war, wo wir hätten essen können.»
Die Kleider wusch sie zwar regelmässig, liess sie aber gleich in der Waschküche hängen und zog sie dort wieder an. Der Grund: In der Wohnung kam sie gar nicht mehr bis zu den Schränken durch.
Parallel zu ihrer Überforderung war das Messie-Syndrom mittlerweile voll zum Ausbruch gekommen: Sie konnte sich kaum mehr von Dingen trennen, die ihr einmal etwas bedeutet hatten. Auch heute noch sagt sie:
«Etwas Geliebtes weggeben zu müssen, das ist, wie wenn man mich bei lebendigem Leib häuten würde.»
Dass sie Dingen einen derart übermässigen Wert beimisst, erklärt sie wie folgt: Sie sei in ihrem Leben zu wenig geachtet worden.
«Gell Mami, gstunke hend mir nie»: Das sage ihr Sohn auch heute noch, viele Jahre später, zu ihr, berichtet die Seniorin voller Stolz. Trotz des Messie-Syndroms habe es in ihren Wohnungen kaum Hygieneprobleme gegeben.
In ihrer neuen Bleibe stinkt es denn auch nicht, keine Spur von Fliegen oder sonstigen Insekten, die sich an allfälligen Essensresten gütlich tun würden. Die Frau, bereits Jahre vor ihrer Pensionierung zum IV-Fall geworden, wirkt ebenfalls gepflegt, Finger- und Fussnägel sind geschnitten, ihre Kleider sauber.
Ihr Leben bezeichnet die Messie-Frau als «Odyssee des Scheiterns». Erzählt sie daraus, tut sie das ohne Punkt und Komma. Sie springt von Thema zu Thema, auch an vermeintlich Unbedeutendes aus längst vergangenen Zeiten erinnert sie sich, wie wenn es erst gestern passiert wäre. Sie schwärmt von Dichtern und Schriftstellern wie Goethe, Schiller, Kleist oder Gottfried Keller, von Komponisten wie Brahms, Schumann oder Othmar Schoeck.
Ausführlich beschreibt sie ihre Gedanken, ihre Gefühle – auch jene für ihren Sohn: Er stehe bis heute zu ihr, auch wenn er ein ganz anderes Leben als sie führe und ein perfekter Hausmann sei. Sie sagt:
«Ich habe ein wunderbares Verhältnis zu meinem Sohn. Ohne ihn würde ich nicht mehr leben.»
Mit vielen anderen Menschen ist es schlechter gelaufen: Die Gunst des Grossteils ihrer Familie, ihrer beiden Brüder beispielsweise, hat sie aufgrund ihrer Lebensweise verloren, genauso jene von vielen Bekannten, die irgendwann nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten.
Allerdings habe auch sie einiges dazu beigetragen, gesteht sie: Im Lauf ihrer Messie-Karriere habe sie sich immer mehr zurückgezogen und sich in ihren vier Wänden verbarrikadiert. Wenn jemand klingelte, verhielt sie sich so, wie Messies das halt so tun – sie öffnete die Türe einfach nicht.
«Auch wir Messies haben ein Herz und sind in vielerlei Hinsicht ganz gewöhnliche Menschen. Wieso sieht man das nicht?» Offene Ablehnung, Abwertung, Herabwürdigungen – das ist es, worunter die betagte Ostschweizerin am meisten leidet. Mit ihrem Messie-Syndrom hingegen hat sie längst Frieden geschlossen:
«Ich schäme mich nicht mehr dafür, dass ich so bin, wie ich bin.»
Viele Gespräche mit Menschen halfen ihr dabei. Psychologen hingegen konnten ihr mit einer Ausnahme keine Unterstützung bieten: «Einer von denen sagte mal, jede Schweizer Frau glaube doch, ihren Haushalt nicht im Griff zu haben. Und dann wollte er mir Medikamente geben!»
Mit dem Messie in ihr versöhnt, reagiert die Frau mittlerweile allergisch auf Druckversuche, sie müsse ihr Leben umkrempeln, den Grossteil ihrer Sachen weggeben. «Meine Wohnung, meine Ordnung!», sagt sie bestimmt.
Den Bezug und das Einrichten ihrer neuen Bleibe sieht die Frau als Versuch, das Chaos in ihren eigenen vier Wänden nicht wieder komplett ausarten zu lassen. Sie ist sich bewusst:
«Das ist meine letzte Chance.»
Ein Messie werde sie zwar immer bleiben. Das sei ein Fluch, den man nicht wegbringe.
«Ich habe aber die Hoffnung, dass ich hier mit meinen geliebten Dingen bis zum Tod in Frieden leben kann.»
Und falls mal ein Besucher komme, solle er zumindest durch die Wohnung laufen und irgendwo absitzen können. «Dann ist schon viel erreicht.»
Sie können sich nur schwer von etwas trennen, horten Tausende Dinge, leben in komplett überfüllten Wohnungen, oftmals isoliert von der Aussenwelt: Messies – der Begriff stammt vom englischen Wort «mess» (Unordnung) – gibt es auch in der Ostschweiz. Wie wird man zum Messie? Gibt es Chancen auf Heilung, wenn man am Messie-Syndrom leidet? Und wie gehen Hausbesitzer und Nachbarn damit um, wenn ein Messie in einer Liegenschaft lebt? In einer Serie gehen wir diesen und weiteren Fragen rund ums Thema Messies nach. (dwa)
Lesen Sie die anderen Beiträge unserer Messie-Serie nach: