MÜNSTERLINGEN. Festakt zur Bodensee-Gfrörni vor 50 Jahren: In Münsterlingen erinnerte am Samstag eine Prozession der vier Gemeinden an das Jahrhundertereignis. Zeitzeugen frischten ihre Erinnerungen auf und erneuerten Freundschaften.
Ein eisiger Wind pfeift und treibt den Schnee vor sich her, der dicht vom Himmel fällt und sich in den Haaren und auf den Kleidern der Gäste festsetzt, die an die Prozession zum Gedenken an die Seegfrörni von 1963 gekommen sind. Fast scheint es, als wolle der Winter just zum Jubiläum zeigen, wozu er auch heute noch fähig ist.
Doch der See, der ist eisfrei. Ruhig plätschert er ans Ufer, die andere Seite kaum sichtbar. Dann bricht die Sonne durch die Wolken, scheint das deutsche Hagnau an. Weit, unendlich weit scheint es weg, unüberbrückbar liegt der See zwischen der Schweiz und dem nahen Deutschland. Der See, er verbindet nicht, er trennt. Wenn im Winter keine Schiffe fahren, ist es von Münsterlingen nach Hagnau eine halbe Weltreise – mit dem Auto und der Fähre nach Meersburg ist man mehr als eine Stunde unterwegs.
Doch dann, im Februar 1963, war diese Grenze einfach weg. «Der See lag da wie tot, einfach nur eine einzige, weite Fläche», erinnerte sich Zeitzeugin Ines Ruska an der Jubiläumsfeier in Münsterlingen an jenen Morgen Anfang Februar, als der See ganz zugefroren war.
Und es dauerte nicht lange, bis die Menschen die Grenze überschritten. Am 6. Februar kamen die ersten Hagnauer über den See, Tausende sollten ihnen in den nächsten Tagen und Wochen folgen. «Damals waren die Grenzen ja noch viel dichter als heute», erinnert sich Heinrich Brunner. «Und dann war diese Grenze einfach weg – es war unglaublich.»
Brunner, ein Münsterlinger Hechtler (Fasnächtler), fuhr damals mit einem Freund mit dem Velo herüber – und brach ein. «Eine ganz böse Situation. Triefend nass und durchgefroren wurde ich in Hagnau von der Wirtin des <Augustin> aufgepäppelt. Das Velo haben wir später wieder aus dem See fischen können.» In der speziellen Atmosphäre rund um die Eisfläche entstanden Freundschaften; der sonst so trennende See verband die Menschen, die um ihn herum lebten. «Wir haben alle unseren Dialekt gesprochen, aber wir haben uns verstanden und sofort Freundschaft geschlossen», erzählt Ines Ruska.
Die Freundschaften von damals, sie halten bis heute. «Wer ein Boot hat, fährt im Sommer immer noch viel rüber», so Brunner. «Die Freundschaften hatten Bestand und umfassen mittlerweile auch Menschen, die 1963 noch gar nicht geboren waren.»
Im Gedenken an dieses verbindende Jahrhundertereignis veranstalteten die Gemeinden Altnau, Hagnau, Immenstaad und Münsterlingen am Samstag einen Festakt. In dessen Zentrum stand eine ökumenische Prozession – dabei wurde die Büste des heiligen Johannes, die seit 1573 jeweils bei einer Seegfrörni über den See getragen wird, vom See zur Kirche getragen. Mehrere Hundert Personen nahmen trotz schlechten Wetters an der Prozession und dem Festgottesdienst teil. Und wie 1963, als auf beiden Seiten des Sees ausgelassene Feste gefeiert wurden, feierten die Menschen mit einem Maskenball bis weit in die Nacht hinein.
Ob es indes je wieder zu einer Seegfrörni kommt, ist fraglich. «Durch den Klimawandel wird es wohl kaum zu einer weiteren Eisbrücke kommen», sagte Hagnaus Bürgermeister Simon Blümcke anlässlich der Prozession. «Heute müssen wir andere Wege suchen, um aufeinander zuzugehen.» Auch die Thurgauer Regierungspräsidentin Monika Knill beschwor in ihrer Rede das Verbindende. «Ich wünsche mir, der See würde zufrieren und Angela Merkel würde sich mit Evelyne Widmer-Schlumpf in der Mitte des Sees treffen, um alle Steuer-CDs zu versenken und das Steuerabkommen zu unterzeichnen.»
Ursprünglich war es jedoch genau umgekehrt – nicht die Schweizer zahlten (Abgeltungs-)Steuer, sondern die deutschen Untertanen hatten der St. Galler Obrigkeit in Münsterlingen den Zehnten abzuliefern, um Fasnacht feiern zu dürfen. Dies griffen einige Immenstaader 1963 auf – mit einem Schlitten brachten sie Fleisch, Käse und einige Hennen herüber, den Zehnten eben.
Auch heute noch unterhält die Narrengesellschaft Immenstaader Hennenschlitter Freundschaften über den See, vor allem mit den Hechtlern aus Münsterlingen. Alle fünf Jahre gedenken sie der Seegfrörni, die damit auch nach fünfzig Jahren noch eine Brücke über den See schlägt.