Nach den Schüssen von Rehetobel ist die Polizei in Erklärungsnot. Sie kannte die Vorgeschichte des Schützen, dennoch trugen die Polizisten beim Einsatz keine Schutzwesten. Doch leichtgläubig gehandelt habe man nicht.
Alexandra Pavlovic
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Nach und nach kamen die Informationen über die Vergangenheit des Schützen von Rehetobel ans Licht. Er war ein Waffennarr, hatte Phantasien von Metzeleien und Schiessereien, war ein Meister der Täuschung und schoss bereits als 19-Jähriger mit einer Schrotflinte auf mehrere Personen. Am Dienstag schlug er erneut zu und verletzte zwei Polizisten schwer, einen davon lebensgefährlich.
Noch immer befinden sich beide Polizisten im Spital. «Ihr Gesundheitszustand ist nach wie vor unverändert», sagt Marcel Wehrlin, Sprecher der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden, auf Nachfrage. Ein Beamter befinde sich noch immer in kritischem Zustand. Im Polizeikorps herrsche tiefe Betroffenheit. Dennoch: Die Einsatzbereitschaft seitens der Beamten sei sehr gross. «Wir wollen alle, dass die Umstände der Tat schnellstmöglich aufgeklärt werden», sagt Wehrlin.
Auch Tage nach der Tat sind diverse Fragen noch offen. Etwa, ob die im Einsatz stehenden Polizisten von der Vorstrafe des Täters wussten. «Ja, das war ihnen bekannt», bestätigt Kapo-Sprecher Wehrlin. Nach Einbezug aller Fakten habe man sich dazu entschlossen, den Täter auf den Polizeiposten Heiden vorzuladen, um ihn dort auf gefährliche Gegenstände zu durchsuchen.
Den Vorwurf, die Polizei habe zu leichtgläubig gehandelt, weist Wehrlin zurück. «Uns war die Vorgeschichte des Täters bekannt, daher haben wir auch entsprechende Massnahmen ergriffen und den Täter zum Schopf, wo eine Hausdurchsuchung stattfand, begleitet.» Während der ganzen Zeit waren also zwei Beamte bei ihm. «So konnte die Person immer im Auge behalten werden», sagt der Kapo-Sprecher. Wie viele Beamte insgesamt im Einsatz waren, will er aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen. Auch nicht, wie es dazu kommen konnte, dass der Täter plötzlich eine Waffe hatte.
Hinter vorgehaltener Hand äussern Experten Zweifel am Vorgehen der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden. So stellt sich die Frage, wieso die Polizei kein Spezialkommando eingesetzt hat. Wo sie doch wusste, wie es um die Vergangenheit des Täters und dessen Gewaltpotenzial stand. Hätte die Polizei nicht alle im Einsatz stehenden Polizisten alarmieren sollen, wo doch bekannt war, dass der Schütze bereits als 19-Jähriger auf Menschen geschossen hat? Und weshalb trugen die beiden Beamten, die den Täter später zum Schopf begleiteten, keine Schutzwesten? «Bei den uns vorliegenden Verletzungsbildern hätte auch eine Schutzweste nicht sicher einen Schutz gewährt», sagt Marcel Wehrlin. Und selbst wenn doch: Einen absoluten Schutz gebe es nie. «Es hängt von vielen Faktoren ab, ob man von einer Kugel verletzt wird oder nicht.» Da spiele zum einen der Schusswinkel eine Rolle, die Distanz der Schussabgabe oder auch die Art der Waffe. Bekannt ist im Fall Rehetobel lediglich, dass es sich um eine Faustfeuerwaffe handelte. Zu weiteren Details äussern sich die Polizei und die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht. Die Schutzweste sei eine von verschiedenen Möglichkeiten der Polizei, sich gegen allfällige Angriffe zu schützen, so Wehrlin. «Bei den Schutzwesten gibt es aber verschiedene Ausführungen und je nach Schutzklasse kann eine Weste schnell einmal zehn Kilogramm und mehr wiegen.» Gewicht, das im Einsatz auch sehr einschränkend wirken könne. «Für uns bedeutet dies, dass die Einsatzkräfte im Einzelfall entscheiden können, welche Schutzmittel sie einsetzen.» Plötzliche Gewalteskalationen seien immer möglich.
Gegen eine Tragepflicht von Schutzwesten ist auch der Verband Schweizerischer Polizeibeamter. Auch Verbandspräsidentin Johanna Bundi Ryser erwähnt die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, und auch sie sagt: «Es ist trügerisch zu glauben, dass das ständige Tragen einer Schutzweste vor jeglicher Gefahr schützen kann.» Die Polizeikorps in der Schweiz würden unterschiedlich mit dem Thema umgehen. «Die Unterschiede zeigen sich besonders zwischen Stadt und Land.» So verzichten die Zürcher Stadtpolizisten beispielsweise überhaupt nie auf das Tragen von Schutzwesten.