Gedankenstrich-Kolumne
Samantha Wanjiru über die Vergänglichkeit des Lebens: Bevor ich sterbe, möchte ich...

Eine Kunstaktion der amerikanischen Künstlerin Candy Chang bringt unsere Kolumnistin Samantha Wanjiru ins Grübeln. Sie will das Tabuthema Tod dahin rücken, wo es seinen festen Platz haben sollte: mitten ins Leben.

Samantha Wanjiru
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Samantha Wanjiru, «Tagblatt»-Kolumnistin.

Samantha Wanjiru, «Tagblatt»-Kolumnistin.

Arthur Gamsa

Es ist Freitagnachmittag. Ich mache einen Spaziergang durch die Stadt St.Gallen. Der Bahnhof ist belebt. Die Sonne scheint, und die Menschen geniessen in den umliegenden Cafés ein Erfrischungsgetränk, mit ihren liebsten Freunden. Nach der langen Zeit des Social Distancing trauen sich die Passanten wieder, sich bei der Begrüssung zu umarmen. Ich freue mich sehr darüber, nach langer Maskenpflicht die Gesicht der Menschen wieder zu sehen.

Am Kornhausplatz setzte ich mich auf eine Bank, um das amüsante soziale Verhalten der Tauben zu beobachten. Mein Blick schweift ab und mir fällt etwas ins Auge: eine grosse schwarze Box. Verwundert laufe ich in Richtung der Box, um zu sehen was es damit auf sich hat. Ich erkenne das die Wände der Box aus Tafeln bestehen. Auf den Tafeln ist mit weisser Druckschrift geschrieben: Bevor ich sterbe, Punkt, Punkt, Punkt. Rund um die Aufschrift herum haben Passanten, mit Kreidestift verschiedene Wünsche aufgeschrieben: Bevor ich sterbe, möchte ich alle Kontinente gesehen haben. Bevor ich sterbe, möchte ich alle Liebe, die ich bekommen habe, zurückgeben. Und: Bevor ich sterbe, will ich meine Eltern stolz machen. Ich bin sehr berührt von den Ideen und fühle mich dazu berufen, meine Gedanken ebenfalls zu teilen. Mit roter Kreide schreibe ich in dicker Schrift: Bevor ich sterbe, möchte ich mein volles Potenzial ausgelebt haben.

Das interessante Projekt hat eine lange Vorgeschichte. Entstanden ist die Idee im Jahr 2009 als Kunstprojekt einer amerikanischen Künstlerin. Inspiriert vom grossen Verlust einer ihr nahestehenden Person, stellte Candy Chang, die Tafeln erstmals in New Orleans auf. Das Ziel des Projektes war es, das Tabuthema Tod in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Denn der Tod ist bis heute eine Angelegenheit, worüber man gar nicht oder sehr ungern spricht.

In vielen Kulturen und Religionen gilt der Tod als ein negatives Ereignis. Deswegen schweigt der Mensch lieber darüber. Obwohl der Tod für jeden Menschen unabwendbar ist. Natürlich ist der Tod immer mit einem schmerzhaften Verlust für Familien und Freunde verbunden. Der Schmerz, einen vertrauten und geliebten Menschen zu verlieren, ist für viele Angehörige eine traumatische Erfahrung.

Die Idee der Künstlerin, sich offen und für alle sichtbar über die Gedanken und Wünsche der Menschen bezüglich ihrem Leben vor dem Tod, auszutauschen, löste trotz des Tabus eine kleine Bewegung aus. Auf der ganzen Welt organisierten sich Freiwillige, um ähnliche Tafeln in ihren Städten aufzustellen. Die Idee kam auch in der Schweiz an. Sechs engagierte Frauen haben das Projekt in die Ostschweiz gebracht. Vom 30. April bis 24.Mai sind die Tafeln an verschiedenen Standorten in der Stadt St. Gallen öffentlich zugänglich. Zu diesen gehören die Piazza Migros Lachen, der Kornhausplatz, die Marktgasse und das Areal Bach.

Das Projekt soll gemäss Organisatoren Menschen dazu einladen, im Alltag innezuhalten, zu reflektieren und seine eigenen Gedanken mit den Mitmenschen zu teilen. So rücke das Thema Leben und Lebensende dahin, wo es seinen festen Platz haben sollte: mitten ins Leben. Gerade durch die Coronapandemie und den anschliessenden Ukrainekrieg, haben viele Menschen weltweit nochmals ein anderes Bewusstsein für das Thema Leben und Tod erhalten.

Für mich als junge Millennial folgten noch nie so schnell zwei unterschiedliche historische Ereignisse aufeinander, die das Thema sterben und leben so deutlich aufzeigten. Krieg und physische Erkrankungen sind für unsere modernen und entwickelten Gesellschaft, zwei ausschlaggebende Faktoren, die eng mit der Realität des Todes zusammenhängen. Seien es die politischen Konflikte in Gebieten wie Syrien oder die weltweit steigende Zahl Krebskranker. Die eigene Sterblichkeit wird einem besonderes bei diesen Themen nochmals bewusst. Umso wichtiger ist es, dass wir unter anderem mit solchen Projekten die Themen Leben und Sterben in unserer Gesellschaft normalisieren. Das Stigma des Todes kann nur überwunden werden, wenn wir uns aktiv für eine offenere und ehrlichere Kommunikation einsetzen.

Samantha Wanjiru ist Psychologiestudentin und Kopf der Black-Lives-Matter-Bewegung in der Ostschweiz. Sie schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Ulrike Landfester und Walter Hugentobler.