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Ostschweiz
Der Kanton verzichtet wegen knapper Finanzen auf die Ausgrabung auf dem alten reformierten Friedhof Urnäsch. Dort sollen 2020 die Bauarbeiten für eine neue Gemeindekanzlei sowie ein Mehrfamilienhaus beginnen - und an den bis zu 600 Jahre alten Skeletten in tiefer Erde möglichst wenig Schaden anrichten.
Die baufällige Gemeindekanzlei Urnäsch am Dorfplatz steht an einem historisch spannenden Ort: Auf dem Grundstück zwischen Kanzlei und Kirche befand sich vom frühen 15. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der reformierte Friedhof. Das Vorhaben der Gemeinde, das rund 400 Jahre alte Gebäude abzubrechen und eine neue Kanzlei zu bauen, rief deshalb den Kanton auf den Plan. Bevor die Bagger auffahren, sollte das Baugebiet auf Überreste des historischen Friedhofs untersucht werden.
Appenzell Ausserrhoden, das selber keine Archäologie betreibt (sondern lediglich im Staatsarchiv eine entsprechende Meldestelle führt), beauftragte das Amt für Archäologie Thurgau mit einer Sondierung. Im vergangenen August gruben die Thurgauer Fachleute zwei Gräben aus und stiessen schon in der obersten Schicht auf eine grosse Anzahl Skelettteile, manche gut 600 Jahre alt. Nebst Knochen fanden sich Glasscherben, Metallteile und Sargnägel aus unterschiedlichen Epochen.
Der Befund der Archäologin Iris Hutter und ihres Teams ist klar: Das Gebiet berge ein aussergewöhnlich dichtes Gräberfeld und habe grosses archäologisches Potenzial. Zwölf Gräber wurden dokumentiert und geborgen, 107 Kilogramm Knochenmaterial herausgelesen und sieben Individuen in einem Massengrab gefunden, wie es im Bericht heisst. Mit anderen Worten: Die zahlreichen Überreste des früheren Friedhofs versprächen Erkenntnisse über Lebensgewohnheiten im spätmittelalterlichen Voralpenraum.
Aufgrund der Ergebnisse der Sondiergrabung wäre eine sogenannte Rettungsgrabung «aus rein wissenschaftlicher Sicht angezeigt», teilt die Ausserrhoder Kantonskanzlei mit. Trotzdem verzichte die Regierung darauf – aus finanzpolitischen Gründen. Die angespannte Finanzlage des Kantons verlange grösstmögliche Zurückhaltung bei den Ausgaben und weitreichende Sparbemühungen, heisst es. Vor diesem Hintergrund «wäre es nicht zu verantworten, für eine isolierte Rettungsgrabung mit unsicherem Erkenntnisgewinn mehrere hunderttausend Franken auszugeben.»
Tatsächlich habe die Regierung mehrere Optionen geprüft und sorgfältig abgewogen, sagt Kommunikationschef Georg Amstutz. Der Verzicht auf die Grabung in Urnäsch sei kein Präzedenzfall. Doch die hohen Kosten von bis zu 600'000 Franken lägen für den kleinen Kanton nicht drin, zumal die wissenschaftliche Aufarbeitung dazu käme und die Lagerung des Materials in St.Gallen oder anderen Orten offen sei.
Wenn im Frühling 2020 die Bauarbeiten für die Gemeindekanzlei sowie ein privates Mehrfamilienhaus beginnen, muss die Archäologie wegsehen: Die Funde im Neubaubereich werden zerstört, neu ausgegrabene Gebeine auf den neuen Friedhof überführt.
Der Schaden an den Schichten auf der angrenzenden Parzelle soll hingegen möglichst gering gehalten werden. Die Gemeinde als Bauherrin ist angewiesen, die Belastungen auf ein Minimum zu reduzieren.
Da und dort hat der Verzichtsentscheid Erstaunen und Kopfschütteln ausgelöst, doch von einem Aufschrei unter Fachleuten kann keine Rede sein. Die Thurgauer Kantonsarchäologe will als Auftragnehmer den Entscheid nicht kommentieren, dies sei gänzlich Sache der Ausserrhoder Regierung, heisst es auf Anfrage. Auch der Leiter der Kantonsarchäologie, Martin Schindler hält mangels genauerer Kenntnis des Urnäscher Funds mit Aussagen zurück.
Generell verfolge die Kantonsarchäologie die Strategie, «nur auszugraben, was gefährdet ist», sagt Schindler. Was geschützt in der Erde bleiben könne, sei dort gut aufgehoben und – wie etwa im St.Galler Klosterhof – eine «Ressource für die Zukunft», in der wahrscheinlich bessere Instrumente für Ausgrabungen zur Verfügung ständen. Eine künftige Grabung in der Umgebung der Urnäscher Neubauten sei nicht ausgeschlossen, meint Georg Amstutz. Einstweilen aber bleiben die Skelette in den unteren Erdschichten ruhen – sofern die Bauarbeiter einigermassen behutsam baggern.