Wie kommt der Rehrücken im Herbst auf die hiesigen Teller? 6117 Rehe haben Jäger im letzten Jahr in der Ostschweiz erlegt. Wir waren dabei auf einer Treibjagd mit Hund Bosco, Jäger Paul, Treiber Ron und Schütze Ivan.
Die Jäger tragen alle auffällig knallorangefarbige Jacken oder Westen. Eine Runde von 20 Männern steht im Halbkreis vor dem Restaurant «Frohe Aussicht» im Weiler Winzenberg oberhalb von Lütisburg im Toggenburg. Es ist kurz nach 8 Uhr, am ersten Samstag der Jagdsaison in diesem Herbst. Man begrüsst sich, stellt sich einander vor – einige sind zum ersten Mal Teil der Jagdgesellschaft Lütisburg. Drei Treiben durch teils unwegsame Waldgebiete stehen heute auf dem Programm. Dabei streifen fünf Personen mal laut, mal leise durch das Gelände und versuchen, Rehe und Füchse aufzuscheuchen. Auf ihrer Flucht sollen die Tiere vor die Flinte der wartenden Jäger laufen. Soweit die Theorie, die Jagdbeute wird an diesem Tag gering ausfallen.
Dank der Westen sollen sich die Jäger im Wald erkennen können. «Das ist zu unserer eigenen Sicherheit», sagt Daniel Gübeli. Die Wildtiere nehmen die auffällige Farbe schlecht wahr, reagieren allerdings rasch auf Bewegungen, Gerüche und Geräusche. «Das Auge eines Rehs ist vergleichbar mit dem Bild eines Schwarz-Weiss-Fernsehers», erklärt Gübeli. Solange die Jäger ruhig und lautlos verharren und der Wind günstig ist, sind sie für die Wildtiere nicht als Mensch zu erkennen.
Gübeli ist gelernter Landschaftsarchitekt und leitet die Jagd. Er drückt allen Jägern einen Kartenausschnitt in die Hand. Darauf hat der 50-Jährige aus Wil den «Stand», den Standort jedes Jägers, eingezeichnet. Dazu den Korridor, den die Treiber einschlagen werden. Das Vorgehen ist minutiös geplant. Um 8.55 Uhr sollen alle auf ihrer Position sein.
Routiniert machen sich die Jäger ans Werk: Aus dem Kofferraum ihrer Autos holen sie nicht nur ihre Schrotflinten, einige haben auch ihre Jagdhunde mitgenommen. «Sie sollen das Wild in Bewegung bringen», sagt Gübeli. Es sind Rauhaar-Dackel, Dachshunde genannt, die freudig aufgedreht aus den Kofferräumen schlüpfen. «Nur Hunde, die das Wild spurlaut, das heisst laut jagend, verfolgen, sind bei der Treibjagd erlaubt.» Wenn die Dackel eine Fährte aufnehmen, verfolgen sie die Wildtiere unter lautstarkem Bellen, einholen können sie die aufgescheuchten Rehe nicht. Grössere Hunde, die Wildtiere lautlos hetzen, würden diese allenfalls reissen, noch bevor sie ein Jäger zu Gesicht bekomme, sagt Gübeli.
Einmal ab der Leine, schiesst Bosco, der vierjährige Dackelrüde, durchs Unterholz, flitzt durch die Blätter. Die Hunde durchstöbern den Wald selbstständig, einige kehren erst nach Stunden wieder zurück. «Jagdhunde wurden auch schon von Spaziergängern gefunden und ins Tierheim gebracht», sagt Paul Lämmler, der Besitzer von Bosco. Deshalb trägt er wie die anderen Hunde bei der Jagd ein neonfarbenes Halsband mit der Handynummer des Halters.
Mittlerweile hat Paul Lämmler seine Position bezogen. In seinem Sichtfeld verläuft ein Wildwechsel, ein Trampelpfad, den das Wild bei seiner Flucht möglicherweise einschlagen wird. Der 69-Jährige aus Arnegg hat sein Schrotgewehr geladen – und wartet. In den Baumkronen rufen Kolkraben ihr «kraa, kraa», in einiger Entfernung brummt ein Traktor. Lämmler ist still und konzentriert: «Man muss Augen und Ohren offen halten. Wenn ein Tier kommt, hat man nicht viel Zeit zum Studieren.» Nach rund einer Stunde: ein Geräusch. Für einen kurzen Augenblick ist ein Reh zu sehen. Lämmler legt sein Gewehr an, doch die Distanz ist zu gross. Das Tier entschwindet, der Jäger senkt den Lauf wieder. Auf einem Gehstock, der sich aufklappen lässt und so zu einem Sitz wird, lässt er sich nieder. Der Rücken schmerzt, da müsse er hin und wieder absitzen. Zum Glück sei der Physiotherapeut nicht weit weg, auch er ist Teil der Lütisburger Jagdgesellschaft.
Während Lämmler den Wald weiter beobachtet, macht Ron d’Hollosy viel Lärm. Statt eines Gewehrs trägt er einen langen Bambusstock mit sich und schlägt mit diesem an die Baumstämme. «Ich schreie herum», sagt D’Hollosy. Die Aufgabe des Physiotherapeuten ist, das Wild aus seinen Verstecken zu treiben und in den Korridor mit den lauernden Jägern zu scheuchen, «damit sie freien Schuss haben und etwas erlegen können». Um in die Nähe der gut getarnten Rehe zu kommen, muss der Treiber aber richtig ins Dickicht. Es geht hoch und runter, das Voranschreiten ist mühsam und schweisstreibend. Wegen der Dornen und spitzen Äste trägt er Handschuhe. Doch dem 53-Jährigen gefallen diese Strapazen, er ist gern in der Natur: «So ein Tag auf der Jagd ist interessant, wenn man mit feinen Leuten unterwegs ist.» Sekunden später zerreisst ein Schuss die Ruhe im Wald.
«Das Reh war sofort tot», berichtet Ivan De Carli. Er habe es erst rascheln gehört, und dann erst gesehen. Es ist vermutlich das Reh, das Lämmler schon kurz zuvor erblickt hatte und welches von Ron d’Hollosy aufgescheucht worden war. De Carli spricht das Tier an, wie es im Jägerjargon heisst. In Sekundenbruchteilen beurteilt er: «Weibliches Reh, alleine.» Schiessbar, lautet sein Verdikt. Als das Tier seitlich zu De Carli steht, drückt er ab. Eine Ladung 3,75 Millimeter Schrotkugeln tötet das Reh auf der Stelle.
Der 40-jährige Jäger beschreibt sein Gefühl: «Es ist Adrenalin pur, durchaus auch ein gefreutes Gefühl, ein Tier zu erlegen.» Der Vater zweier Kinder begegnet der Natur aber mit Ehrfurcht und Respekt. Dem getöteten Reh wird ein Tannenzweig in den Äser (das Maul) gelegt. «Mit diesem Akt, dem letzten Bissen, erweisen wir dem Reh die letzte Ehre.» De Carli steckt sich einen Zweig an den Hut. Es kennzeichnet den erfolgreichen Schützen. Kurz vor 11 Uhr wird die erste Treibjagd abgeblasen, mit einem Hornstoss. Die Jäger kehren zu ihrem Ausgangspunkt zurück. In der Zwischenzeit hat De Carli das rund 15 Kilogramm schwere Reh zu seinem Auto getragen und in eine Plastikwanne im Kofferraum gelegt. Er nimmt die Gratulationen seiner Kollegen entgegen. «Waidmannsheil», sagen sie und schütteln ihm die Hand. Darauf sind noch eingetrocknete Spuren vom Blut des Rehs zu erkennen. «Waidmannsdank», erwidert De Carli. Anschliessend fährt er mit dem Reh zu einem nahen Kühlraum.
«Es ist unsere Aufgabe, den Rehbestand zu dezimieren», erklärt der Familienvater. Sonst sei der Verbiss an Jungbäumen im Jagdrevier zu gross. Das Amt für Natur, Jagd und Fischerei definiert in Absprache mit der Forstverwaltung deshalb für jedes Gebiet und jedes Jahr neu, wie viele Tiere erlegt werden sollten. «Mindestens 49 Rehe soll die Jagdgesellschaft Lütisburg rund um den Winzenberg in dieser Saison schiessen», sagt Paul Lämmler, der als Jagdobmann auch für die administrativen Belange zuständig ist. Gegen 18 Uhr ist die Jagd zu Ende. In den zehn Stunden, die sie draussen waren, haben die Jäger noch ein weiteres Reh, ein Kitz, erlegt, daneben zwei Füchse.
Daniel Gübeli ist mit der mageren Ausbeute nicht zufrieden; im letzten Jahr sind in den vier Ostschweizer Kantonen gesamthaft 6117 Rehe geschossen worden (siehe Grafik). Für eine erfolgreiche Jagd müssten Jäger, Hunde, Treiber und das Wetter optimal zusammenspielen. «Nicht zu vergessen das Jagdglück», ergänzt Gübeli.
Dies kümmert Jäger Ivan de Carli wenig. Er müht sich gerade mit dem neuen Formular des Kantons St.Gallen ab, überschrieben mit «Merkblatt Fleischuntersuchung beim Schalenwild». Damit soll der Weg des erlegten Rehs bis auf den Teller zurückverfolgt werden können. Das von De Carli erlegte Tier wird aber nicht weit transportiert. Rund eine Woche später wird sein Fleisch im Gasthaus «Frohe Aussicht», wo die Jagdgesellschaft nun wieder zusammengekommen ist, serviert werden. De Carli legt den Stift nieder und bezahlt die Rechnung. Sein Portemonnaie ziert übrigens ein Hirsch.