«Ein kostbarer Schatz»

Ein kleines Stück Luxus (2) – heute: Dorli Crabtree gönnt sich in der Hektik unserer modernen Welt bewusste Auszeiten. Sie sitzt dann auf einem Stuhl in der Stille – und geht ein weiteres Stück auf dem Weg zu sich selbst.

Daniel Walt
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«Es ist ganz einfach – man setzt sich auf einen Stuhl und ist still»: Dorli Crabtree. (Bild: Reto Martin)

«Es ist ganz einfach – man setzt sich auf einen Stuhl und ist still»: Dorli Crabtree. (Bild: Reto Martin)

Praktisch rund um die Uhr Betrieb, selbst an den Wochenenden: Als Kind hatte Dorli Crabtree fast keine Möglichkeiten, sich von der Hektik, die in ihrer Umgebung herrschte, zurückzuziehen. Hintergrund: Ihre Eltern führten im bündnerischen Sarn eine Wirtschaft mit Dorfladen und landwirtschaftlichem Gut. «Einzig beim Viehhüten fand ich manchmal Momente der Ruhe und der Verbundenheit mit der Natur und den Tieren», blickt die 62-Jährige zurück.

In diesen seltenen Stunden fernab der Hektik keimte wohl der Same dafür, dass Crabtree im Lauf ihres Lebens empfänglich für die Sprache der Stille wurde und diese mittlerweile bewusst pflegt.

Erste Erfahrungen in England

Nach ihrem Diplomabschluss als Arztgehilfin absolvierte Dorli Crabtree Anfang der 70er-Jahre einen Aufenthalt an einem Quäker-College in England.

Quäker sind Mitglieder der religiösen Gesellschaft der Freunde, einer Gruppierung, die das Warten in der Stille auf Gottes Geist bewusst pflegt. «Jeder Tag am College begann mit rund einer halben Stunde Sitzen in der Stille», erinnert sich Crabtree. Schon beim ersten Mal habe sie gemerkt, dass ihr diese stille Andacht entspreche – aufgrund des religiösen Aspektes, aber auch wegen der seltenen, intensiv erlebten Momente der Ruhe als Kind.

Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz versuchte Crabtree zunehmend, solche Pausen in ihren Alltag einzubauen. Während ihrer Tätigkeit für eine Kirchgemeinde in Zürich habe sie den Mittag oft mit stillem Sitzen zugebracht, anstatt sich in aller Hektik ein Essen zuzubereiten.

Gefühl des Eingebettetseins

Wie funktioniert das Sitzen in der Stille? Dorli Crabtree, die seit 1977 in Romanshorn wohnhaft ist und aktuell Deutsch für Fremdsprachige erteilt, schmunzelt: «Es ist ganz einfach: Man setzt sich auf einen Stuhl und ist still.

» Resultat sei eine innere Ruhe und ein Gefühl des Eingebettetseins in ein grösseres Ganzes. Vorbeiziehende Gedanken seien nicht störend. Gerade in unserer lauten, hektischen Zeit stellt das Sitzen in der Stille für Crabtree eine Oase der Ruhe dar. Das Stillwerden sei aber kein strenges Ritual, das sie täglich pflege: «Ich verzichte bewusst darauf, wenn ich viel zu tun habe, und erledige das Anstehende dafür in einem ruhigen Rhythmus.» Deshalb spricht sie auch von einem kostbaren, aber nicht unantastbaren Schatz.

«Da ist man nie am Ende»

Mit ihrem Mann ist Dorli Crabtree seit Ende der 70er-Jahre Teil einer Ostschweizer Quäker-Gruppe. Die Mitglieder treffen sich alle drei Wochen, um gemeinsam in der Stille zu sitzen. Auch mit Mantra- sowie Zen-Meditation hat sich Dorli Crabtree auseinandergesetzt, ohne diese aber in gleichem Mass zu pflegen. Zusammenfassend hält sie fest, das Sitzen in der Stille in der Quäker-Tradition habe sie im Alltag gelassener werden lassen.

Längerfristig gewinne man dadurch nämlich einen anderen Zugang zur Wirklichkeit, indem man versuche, die Dinge das sein zu lassen, was sie sind, ohne sich von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Ein anderer Mensch sei sie aber nicht geworden: «Ich bin auf dem Weg, mich selbst zu sein. Und da ist man nie am Ende», sagt sie.