Rainer Stöckli und Ina Praetorius haben 150 Vaterunser- und Mutterunser-Varianten in einem Buch vereint. Einige Texte wurden noch nie veröffentlicht. Ein strittiges Beispiel aus dieser Zeitung ist auch dabei.
Roger Fuchs
roger.fuchs@appenzellerzeitung.ch
«Coca Cola unser im Himmel» – diese Verfremdung des bekannten Vaterunser-Gebets brachte der «Appenzeller Zeitung» Anfang 2016 den Vorwurf der Blasphemie ein. Jetzt wird dieser Version grosse Ehre zu teil: Sie findet sich vollständig wieder in einem Buch mit weiteren 150 Vaterunser- und Mutterunser-Variationen aus den letzten 250 Jahren. Gesammelt hat all diese Texte der Literaturhistoriker und Bibliothekar Rainer Stöckli aus Schachen bei Reute. Im gleichen Buch erzählt die evangelische Wattwiler Theologin Ina Praetorius ihre Geschichte mit diesem Gebet. Für die beiden ist es nicht die erste Kooperation. Vor fünf Jahren haben sie eine Anthologie herausgegeben mit Texten übers Gebären und Geborenwerden.
Stöcklis Interesse am weitest verbreiteten Gebet des Christentums kam nicht von heute auf morgen. Seit vielen Jahrzehnten sammelt er Lesefrüchte. Dutzende Themen passionieren ihn. In Schachteln sammelt er Textmaterial zu Lieblingsthemen wie Igel oder Fliege, zum Sterbevorgang, zum Thema Föhn, zum Sturz des Ikarus oder eben auch Vaterunser- und Mutterunser-Versionen. Geordnet werden diese im Buch nach Umschreibungen, altsprachlichen Fassungen, Mundarten, nach exotischen Übersetzungen und Pervertierungen: «Coca Cola unser», «Konsum unser», «Das Fortschrittunser». In der Einleitung zum siebten Kapitel heisst es: «Diese oder jene Verfremdung, dieses oder jenes Gegengebet animieren zu Erwägungen darüber, wen wir betend anrufen, welche Rolle wir dabei besetzen und worum wir – deshalb oder eigentlich – bitten.» Oder anders ausgedrückt: Der Wortlaut des Christengebets verwebt sich in dieser fast 330 Seiten starken Sammlung mit neuen Welten und regt zum Überdenken des Gottesbildes an. Was letztlich zur Frage führt: Hat Jesus seinen Kreis gar kein Gebet gelehrt, sondern vielmehr eine Art zu beten empfohlen?
Ein ganz eigenes Kapitel ist den Mutterunser-Gebeten gewidmet. «Wir sind den Frauen schuldig, Gottvater auch als Gottmutter zu denken», meint Rainer Stöckli. Allerdings sei dies schnell einmal problematisch. Denn die Figurierung, die Vorstellung von der Muttergottes als Göttin könne handkehrum erotisch besetzt werden.
Gut begründet ist, dass sich Rainer Stöckli bei diesem Buchprojekt vorab für die Gebetsvariationen und nicht für die Masse an Gebetstexten interessierte. Wäre es um die Anzahl gegangen, hätte eine entsprechende Zusammenstellung fast ohne Anstrengung mit Hilfe des Internets zusammengestellt werden können. «Dieses Verfahren hätte aber einzig und allein die Zahl der betbaren Fassungen vervielfacht», so der Herausgeber. Im Gegenzug würden alle Poetisierungen des Gebets des Herrn fehlen und diverse Vaterunser-Versionen in Mundart nicht in Erscheinung treten. Ganz zu schweigen von den altsprachlichen Fassungen sowie den Verlächerlichungen und Verfremdungen.
Aufgefallen ist Rainer Stöckli im Zuge der Arbeit, wie das Vaterunser immer wieder zu Illustrationen animiert hat. Dabei wird es gerne in den Verlauf geschichtlicher Ereignisse eingebettet. Als Beispiel weist er auf den Franzoseneinfall in den Kanton Nidwalden (1798). Ebenso ist das Umgekehrte möglich: Ausgehend von einer Zeichnungsfolge des böhmisch-österreichischen Malers Joseph Ritter von Führich schrieb der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer sein eigenes Vaterunser-Fragment. Beides zu finden im Lesebuch von Stöckli/Praetorius. Erschienen ist das Werk im Appenzeller Verlag.
Das Buch wird an verschiedenen Orten vorgestellt: Sonntag, 5. November, 15.30 Uhr, im Festsaal Katharinen, St. Gallen, und am Freitag, 15. Dezember, 19.30 Uhr, im Verlagshaus Schwellbrunn.