Politik
Mangelnde Bildung, fehlende Vorbilder und Wahlen, die keine sind: Die möglichen Gründe für die tiefe Wahlbeteiligung in Herisau

Appenzell Ausserrhoden und die Gemeinden haben mit einer tiefen Stimmbeteiligung und mangelndem politischen Interesse zu kämpfen. Fünf ehemalige und aktive Politikerinnen und Politiker aus Herisau versuchen, die dringendsten Fragen zu beantworten.

Ramona Koller
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Die Stimmbeteiligung am vergangenen Wahlsonntag war erneut tief.

Die Stimmbeteiligung am vergangenen Wahlsonntag war erneut tief.

Bild: Eibner/Daniel Fleig / www.imago-images.de

Zwar waren es nicht 15,2 Prozent, wie die Gemeinde zunächst fälschlicherweise gemeldet hatte – mit nur 25,2 Prozent war die Stimmbeteiligung in Herisau an den Ausserrhoder Regierungsratswahlen dennoch sehr tief. Woher kommt dieses mangelnde Interesse an der Politik? Wir haben bei aktiven und ehemaligen Politikern aus Herisau nachgefragt. Annette Joos (FDP), abtretende Kantonsrätin und ehemalige Herisauer Gemeinderätin, liefert eine mögliche Erklärung: «Wahlen ohne Auswahl sind für die Stimmberechtigten nicht attraktiv. Es fanden aufgrund des bereits im Vorfeld feststehenden Resultats auch kaum Podien oder Veranstaltungen mit der Kandidatin und dem Kandidaten statt.» So fehle für die Stimmbürger der Reiz des (Aus-)Wählens und das Gefühl des Mitbestimmens.

Christian Oertle (SVP), ebenfalls abtretender Kantonsrat und ehemaliger Herisauer Einwohnerrat, pflichtet ihr bei und bezeichnet den vergangenen Wahlsonntag als eine «sehr langweilige Geschichte». «Dass es bei den Regierungsratswahlen keinen eigentlichen Wahlkampf gegeben hat, zeugt von einem sehr stabilen politischen Hintergrund», so Oertle. «Wenn gute qualifizierte Kandidaten vorhanden sind, muss man nicht einfach der Show zuliebe einen Wahlkampf erfinden. Dies wirkt aber gegen aussen halt sehr stiefmütterlich und lässt die Leute kalt.»

«Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums war ein Fehler»

Armin Stoffel (Die Mitte), langjähriger Präsident der CVP AR sowie der CVP Herisau und Präsident des Bekennerkomitees «Wahlen 2023», sieht einen weiteren Grund in den nationalen Veränderungen. Coronapandemie, Klimanotstand und Ukraine-Krieg. «Die offizielle Politik hat darauf bereits reagiert, aber in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger sind diese nötigen Verhaltensänderungen offenbar noch nicht angekommen», so Stoffel.

Max Nadig (Die Mitte), ehemaliger Gemeinderat und früherer CVP-Präsident, sieht die Ursache vor allem in der fehlenden Diskussionskultur, die zu einem abnehmenden Interesse an der Politik führe. Abgesehen davon, dass Wahlen oftmals keine wirklichen Wahlen mehr seien, erweise sich auch die Schaffung des fakultativen Gesetzesreferendums als wenig demokratiefördernd, da kaum mehr kantonale Sachabstimmungen stattfinden. «Der Kantonsrat nutzt die Möglichkeit des obligatorischen Referendums, das in seiner Kompetenz ist, viel zu wenig, es fehlt damit eine eigentliche Diskussionskultur», so Nadig. Rückblickend betrachtet er die Einführung dieses Systems, bei dem er damals mitgeholfen hat, als einen Fehler der Nachlandsgemeindezeit.

Informationsvermittlung durch die Gemeinde wichtig

Welchen Einfluss kann die Gemeinde auf die Stimmbeteiligung nehmen? Der Herisauer Gemeindepräsident Max Eugster (SP) sagt, der Satz «Konkurrenz belebt das Geschäft» gelte sicher auch für Wahlen. Auch er vermutet, dass sich die Wählerinnen und Wähler aufgrund des zu erwartenden Ausgangs der Wahl sich den Gang an die Urne gespart haben könnten. «Was eine Gemeinde leisten kann, sind Informationsvermittlung und der Einbezug der Bevölkerung in politische Geschäfte, um das Interesse am lokalen Geschehen zu wecken», erklärt Eugster. Das könne längerfristig zu einer höheren Stimmbeteiligung bei Sachgeschäften, aber auch bei Personenwahlen beitragen.

Gerade Personenwahlen waren in Herisau in den vergangenen Jahren für Überraschungen gut. 2019 musste der damalige Gemeindepräsident Renzo Andreani (SVP) sein Amt zugunsten von Kurt Geser (parteilos) abgeben. 2021 gewann die damals parteilose Stefanie Danner (heute PU) gegen den ebenfalls parteilosen Patrick Kobler und Monika Baumberger (FDP) die Ergänzungswahl für einen Sitz im Gemeinderat.

Man könnte die zweimalige Bevorzugung von Parteilosen gegenüber Parteipolitisierenden als Zeichen für mangelndes Vertrauen in die Parteien sehen. Eugster widerspricht: «Ich denke nicht, dass man aus zwei Exekutivwahlen – die in Ausserrhoden in erster Linie Personenwahlen sind – diesen Schluss ziehen kann, zumal in Herisau der Einwohnerrat eine grosse Rolle spielt.» Bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen am 16. April werde sich wieder zeigen, wie wichtig die Rolle der Parteien und wie gross das Vertrauen der Stimmbevölkerung sei. «Eine Einwohnerratswahl mit 106 Kandidierenden wäre ohne den grossen Einsatz der Parteien nicht denkbar», so Eugster.

«Die Gesellschaft will sich nicht festlegen»

Die Bevorzugung von Parteilosen gegenüber Parteiangehörigen gibt Christian Oertle zu denken. «Die Gesellschaft will sich heute lieber nicht mehr festlegen, so kommt eine Partei der Parteilosen gerade gelegen», so Oertle. «Da kann man einfach mal so in der Politik mitmischen und kann sich links, rechts, in der Mitte oder gar nicht beteiligen.»

Dies sieht Annette Joos ähnlich. Sie räumt den Parteien auch in Zukunft gute Chancen ein, im politischen Umfeld zu bestehen. «Dazu müssen sie Inhalte ansprechen, die die Bevölkerung bewegen, klare Positionen vertreten und glaubwürdige und bekannte ‹Köpfe› auf ihre Listen setzen», so Joos.

Die Partei der Parteiunabhängigen sei eine ganz normale Partei, nur besitzt sie keinen politischen Kompass, erklärt Max Nadig. «Die Mitglieder dieser Partei geben vor, nur Sachpolitik und keine Parteipolitik zu betreiben. Damit suggerieren sie, dass die üblichen Parteien keine Sachpolitik betreiben», so Nadig.

Wer einmal in einer Partei mitgearbeitet habe, wisse, dass um sachpolitische Fragen gerungen wird und grossmehrheitlich die eigene, auch gegenteilige Meinung öffentlich vertreten werden dürfe. «Die üblichen Parteien schaffen es nicht, den politischen Wettbewerb im positiven Sinn zu fördern – bei Wahlen benötigt es immer wieder Personen, welche bereit sind, einen Wahlkampf zu bestreiten, auch im Wissen, nicht gewählt werden zu können», so Nadig. Eine Nichtwahl sei keine Niederlage, obwohl dies von den Medien immer wieder so kommuniziert wird. «Da man nicht gerne Verlierer ist, stellt man sich auch nicht einer Wahl, auch wenn dies für eine lebendige Demokratie wichtig ist – ein Nichtgewählter ist deshalb immer ein Sieger, da er sich an einer Wahl beteiligt hat», erklärt Nadig. Dies müsse von den Parteien auch mehr und aktiv gepflegt werden.

Oertle und Stoffel sind sich einig, dass es den Herisauern, und auch allgemein dem Schweizer Volk, zu gut gehe. «Wir sind eine ausgeprägte Konsumgesellschaft, denen es an nichts fehlt – warum soll ich mich daher bewegen, um irgendwelche demokratische Pflichten nachzukommen, die mir persönlich direkt spürbar nichts bringen?», fragt Oertle. Zudem fehle im Lehrplan die politische Bildung der Jugend in Bezug auf das Schweizer System. Dies vergrössere die Distanz zwischen Politik und Bürger.

Als «bequem, wenig inspiriert und stimmfaul» bezeichnet Stoffel einige Bürgerinnen und Bürger und fügt hinzu: «Demokratie heisst Herrschaft des Volkes, will heissen: Rechte sind auch immer mit Pflichten verbunden. Mündige Bürgerinnen und Bürger verweigern ihre Mitsprache, ist in aller Regel keine Frage der verfügbaren Zeit, sondern einer grundsätzlich negativen Haltung.» Die Rolle des Elternhauses sowie fehlende Vorbilder tragen seiner Meinung nach zur Problematik bei.