Mein Freund, der Baum

Esther Schiess Pfarrerin (Bild: PD)
Der Wald, die Bäume lehren uns Lebensweisheit, Vertrauen im Kreislauf des Lebens.
Die Jahreszeit Herbst ist die Zeit der intensiven Farben. Vor tiefblauem Himmel heben sich die Farben der Bäume und Sträucher besonders schön ab. Goldgelb und rotgolden glänzen die Blätter in der Sonne. Aber Herbst ist auch die Zeit der Melancholie, wenn der Nebel grau durch die Täler streicht, die Äste kahl werden und die Blätter am Boden sterbend braun.
Der Wald ist ein guter Lehrmeister für das Leben, nicht nur im Herbst, aber im Herbst vielleicht ganz besonders. Der berühmte Mönch Bernhard von Clairvaux schrieb im 12. Jahrhundert: «Glaube mir, weil ich es so erfahren habe: Du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Die Bäume und die Böden werden dich Dinge lehren, die dir kein Lehrer sagen wird.»
Im Unterschied zu Mensch und Tier hört ein Baum nie auf zu wachsen. In seinem Stamm reiht sich Jahrring an Jahrring, bis er stirbt – oder gefällt wird. Jedes Jahr wächst ein Baum ein wenig – in die Höhe und in die Breite. Aber jedes Jahr stirbt er auch ein wenig, im Herbst.
Bäume sind etwas Besonderes, sie sind uns in spezieller Art verbunden. Jahr für Jahr führen uns Knospen, Blätter, Blüten, Früchte und dann das Kahlwerden den Kreislauf des Lebens vor Augen. Jeden Herbst muss jeder Laubbaum seine Blätter loslassen, das Motto des Herbstes heisst «Erde zu Erde». Was dem Menschen am schwersten fällt, machen die Bäume jeden Herbst vor: Loslassen.
Ein Gedicht von Hermann Hesse (1877 bis 1962) lässt ahnen, was wir Menschen von den Bäumen lernen könnten:
Baum im Herbst
Noch ringt verzweifelt mit den kalten
Oktobernächten um sein grünes Kleid
Mein Baum. Er liebt's, ihm ist es leid,
Er trug es fröhliche Monde lang,
Er möchte es gern behalten.
Und wieder eine Nacht, und wieder
Ein rauher Tag. Der Baum wird matt
Und kämpft nicht mehr und gibt die Glieder
Gelöst dem fremden Willen hin,
Bis der ihn ganz bezwungen hat.
Nun aber lacht er golden rot
Und ruht im Blauen tief beglückt.
Da er sich müd dem Sterben bot,
hat ihn der Herbst, der milde Herbst
Zu neuer Herrlichkeit geschmückt.
Von den Bäumen können wir Glauben lernen, Glauben im besten Sinne: Loslassen dürfen im Vertrauen, dass alles einen Sinn hat, auch das Sterben. Loslassen im Vertrauen auf den Herbst, alles, was wir im Leben nicht halten können. Und glauben: Wir werden wieder lachen, golden rot, und ruhen im Blauen, tief beglückt. Immer wieder – bis zuletzt.
