Geschichten, nicht Geschichte

Die beiden Appenzeller Kantone feiern ihre 500jährige Zugehörigkeit zur alten Eidgenossenschaft. Das Festspiel «Der dreizehnte Ort» erlebte auf dem Hundwiler Landsgemeindeplatz unter grossem Applaus seine Premiere.

Julia Nehmiz
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Grosse Bühne Landsgemeindeplatz, vollbesetzte Zuschauerränge. (Bilder: Martina Basista)

Grosse Bühne Landsgemeindeplatz, vollbesetzte Zuschauerränge. (Bilder: Martina Basista)

HUNDWIL. Stille. Die 700 Zuschauerinnen und Zuschauer auf dem Hundwiler Landsgemeindeplatz erwarten den Beginn des Festspiels. Soeben wurde man von einer Ansage zum «Dreizehnten Ort» zweimal «sönd willkomm» begrüsst. Einmal auf Innerrhoder, einmal auf Ausserrhoder Dialekt. Dann – Stille.

Jäh wird sie durchbrochen von Motorengebrumm, das immer lauter wird. Und «düdado» braust das Postauto auf der Hauptstrasse am Landsgemeindeplatz vorbei, die 180 Spielerinnen und Spieler, klein und gross, von fünf bis 87, rennen hinterher, erstürmen den Bühnenraum, ihren Dorfplatz, die Hauptstrasse, sehen dem Postauto nach. Das Motorengebrumm entschwindet. Leise setzt Musik ein, der Urnäscher Komponist Noldi Alder steht selber als «Alpsteiner» zuhinterst auf einer der Tribünen, zäuerlet so herzergreifend in den Hundwiler Abend, dass einen auch als Nicht-Appenzeller das «Hääweh» ergreifen möchte.

Ein Sturm der Geschichte

Der Beitritt zur alten Eidgenossenschaft vor 500 Jahren wird in beiden Appenzell gross gefeiert. Mit dem Festspiel, welches am Donnerstag seine Premiere erlebte, machen sich die Appenzellerinnen und Appenzeller selber das schönste Geschenk: Einen Theaterabend, in dem 180 Laiendarsteller aus beiden Kantonen einen phantastischen Bilderbogen der 500jährigen Geschichte ausbreiten. Nicht historisch erzählend, sondern poetisch mitreissend wie ein Sturm der Geschichte, der alle auf dem Landsgemeindeplatz in seinen Bann zieht.

Auswanderer, Einwanderer, Zugezogene, Weggezogene, Heimwehgeplagte, Missverstandene, politische Wirrungen, menschliche Irrungen, Napoleon, Industrialisierung, Frauenstimmrecht – Regisseurin Liliana Heimberg und Autor Paul Steinmann gelingt es, abstrakte Geschichte in packende, berührende Geschichten zu stecken. Ihr Festspiel erzählt aus der Perspektive der kleinen Leute, die Geschichte nicht unbedingt gestalten dürfen, diese aber immer aushalten müssen.

Auf Dächern und Strassen

Gemeinsamkeiten und Gemeinheiten, Klischees und Vorurteile reiben sich Innerrhoder und Ausserrhoder genüsslich gegenseitig unter die Nase: «Wir haben noch eine Zeitung», «wir haben den Weitblick», «wir haben eine Kantonalbank», «wir sind näher an Zürich».

Liliana Heimberg und Gisa Frank-Wiederkehr (Choreographie) zeichnen bewegte, szenische Bilder auf den Landsgemeindeplatz, der eine lebendige Kulisse abgibt. Aus Stuben und Türen, auf Dächern und Strassen, von allen Seiten und mitten durch das Publikum hindurch – alles wird bespielt. Das ganze Dorf ist Bühne.

Einmal werden sämtliche Türen der Häuser aufgerissen, knarzendes Webstuhlgeklapper quillt aus den Kellern, rauchende Riesenschlote werden schwankend über den Platz getragen. Später rasen unzählige «Bürogummis» auf Schreibtischstühlen den Abhang hinunter; Miniatureisenbahnen werden an Seilen hoch über den Köpfen der Zuschauer gezogen; das Problem der Abwanderung wird spielerisch aufgegriffen, Kinder rufen Abzählreime «sell i bliibe, sell i go? Sell i wieder umecho?» Noldi Alder und seine achtköpfige Band zaubern dazu hinreissende Musik in den Nachthimmel.

Eineinhalb Jahre geprobt

Von Anfang an wenden sich die Spielerinnen und Spieler immer wieder unprätentiös und direkt ans Publikum. «Ich bin aus Gais», «einheimisch», «zugezogen», erfährt man. In herrlichster, breitester Mundart, nicht Einheimischen kann es da schon schwer fallen, alles zu verstehen.

Die Laiendarsteller agieren mit einer Präzision und Präsenz, die manch eine Profi-Produktion vermissen lässt. Regisseurin Heimberg und Choreographin Frank-Wiederkehr haben eineinhalb Jahre mit den Mitwirkenden geprobt – das Ergebnis begeisterte das Premierenpublikum, zu Recht gab es «Standing Ovations» und grossen Applaus.

Termine und Tickets unter www.derdreizehnteort.ch

Aus Stuben der Anwohner wird gespielt. (Bild: Martina Basista)

Aus Stuben der Anwohner wird gespielt. (Bild: Martina Basista)

Wirbelnde Tänzerinnen erfreuen Napoleon. (Bild: Martina Basista)

Wirbelnde Tänzerinnen erfreuen Napoleon. (Bild: Martina Basista)

Schwindelfreie Spieler wagen sich aufs Dach. (Bild: Martina Basista)

Schwindelfreie Spieler wagen sich aufs Dach. (Bild: Martina Basista)