Während «Warten» in einer beschleunigten Gesellschaft für die meisten Menschen eine ungeliebte Disziplin ist, ist «Warten» für Harlis Schweizer geschenkte Zeit, um zufällig vorgefundene Motive künstlerisch festzuhalten. Ein Spiel zwischen Zufall, Warten und Beobachten.
Ein Samstagabend im St.Galler Lachen-Quartier. Es ist gegen 20 Uhr, als Harlis Schweizer ihren Wagen vor dem «Pool – Raum für Kultur» parkiert, um auf ihre Tochter zu warten. Demnächst sollte die Probe der Kulturkosmonauten zu Ende gehen. Die Künstlerin aus Bühler zückt Stift und Skizzenbuch und beginnt, die Konturen einer wenig inspirierten Garageneinfahrt aufs Papier zu bringen.
Harlis Schweizer liebt solche Wartesituationen. Das Warten vor dem Klo, in Wartezimmern oder auf einem Parkplatz. «Für mich bietet Warten die Möglichkeit, Gedanken nachzuhängen, Unscheinbares, Unzweckmässiges zu betrachten», sagt die Künstlerin.
«Warten als Stillstand der Zeit, als Verharren an Ort. Warten als eine Art Leerraum, ähnlich der Langeweile, in der nichts passiert.»
Wer warte, erwarte etwas. Dadurch entstehe eine Spannung zwischen Ruhe und Ungeduld.
«Während die einen ungeduldig werden, wenn sich die leere Zeit ins Endlose dehnt, freuen sich andere über die geschenkte Zeit», sagt sie. Oder hoffen gar, dass das Warten nicht zu schnell zu Ende geht. «Mich nervt es schon fast, wenn jemand bereits nach 30 Sekunden eintrifft.»
Heute hat Harlis Schweizer Glück. Via SMS teilt ihre Tochter mit, dass die Probe länger daure und sie deshalb eigenständig nach Hause kommen werde.
Harlis Schweizer nimmt die Verzögerung freudig entgegen, startet den Motor und sucht sich im Quartier den nächsten freien Parkplatz. An der Kreuzung Dürrenmatt-/Fontanastrasse wird sie fündig, ein Balkonvorsprung weckt ihr Interesse. Mit Musik im Ohr verbindet sie sich mit dem neuen Warteort, beginnt zur l’heure bleue eine neue Skizze und beobachtet, wie der Tag langsam vergeht. In der Hoffnung, die Verspätung löse sich nicht allzu schnell auf.
Die entstehende Serie «Warten» passt in die experimentelle Arbeitsweise der gelernten Theatermalerin, die mit ihren Arbeiten immer wieder Szenen aus dem Alltag einfängt. Letztes Jahr mit dem Projekt «Passage», als sie in Bühler Passanten porträtierte und Kopien der Arbeiten auf Hauswänden und Mauern ausstellte. Dieses Jahr mit dem Projekt «Schönengrund/Spoken History»: 15 Zeichnungen von Häusern und deren Umgebung visualisieren die Audioaufzeichnung der Erinnerungen des 80-jährigen Erzählers Hans Schweizer, des Vaters der Künstlerin.
Zurück zum Warten. Am liebsten wartet die Künstlerin an Unorten. Dort, wo sich das Leben authentisch und ungeschminkt zeigt. An lauten Kreuzungen, an hässlichen Strassenzügen und unscheinbaren Ecken. Bereits 2006 hatte die Künstlerin mit ihrer Serie «Die 30 hässlichsten Orte der Ostschweiz» auf sich aufmerksam gemacht. Harlis Schweizer schaut genau hin, hinterfragt, fotografiert mit ihrem Stift. Das, was herausspringt, versucht sie, zu verstärken und weiterzudenken.
Das Auto wird in solchen Momenten zum mobilen Atelier, zu einem geschützten Ort, aus dem sich wunderbar beobachten lässt. Eine Art Zeichnungskabine, in der flüchtige Momente festgehalten werden. Den Rahmen der Momentaufnahmen definiert die Windschutzscheibe, das Ende der Skizzen das plötzliche Ende der Wartezeit. Noch ist es nicht so weit. Ein neuerliches SMS kündigt an, dass die Probe noch etwas länger dauert.
Nochmals die Chance, am Ende der Dürrenmattstrasse einen neuen Parkplatz zu finden. Der Zufall führt sie zu einem kleinen Park mit einem eleganten Pavillon. Harlis Schweizer ist längst in einen Flow-Zustand geraten, geniesst die verlängerte Wartezeit in vollen Zügen. Unterdessen ist es Nacht geworden, das Licht auf dem Skizzenblatt in Orange getaucht, als der Anruf der Tochter das Ende der 90-minütigen Wartezeit einläutet.