Der Kopf vor mir

Natürlich weiss ich, dass er nichts dafür kann. Und würde ich einmal mit ihm ins Gespräch kommen, stellte es sich vermutlich heraus, dass er ein ganz angenehmer Zeitgenosse ist.

Martin Kradolfer
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Bild: Martin Kradolfer

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Natürlich weiss ich, dass er nichts dafür kann. Und würde ich einmal mit ihm ins Gespräch kommen, stellte es sich vermutlich heraus, dass er ein ganz angenehmer Zeitgenosse ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er – ein Mann von stattlicher Grösse – mir mit seinem Kopf seit vielen Spielzeiten den Blick auf die Bühne des Theaters St. Gallen versperrt. Sein Abo-Platz befindet sich in der Reihe vor mir, just vor meinem Abo-Platz. Und sein Kopf ist zu meinem Nachteil mit vollem Haar gesegnet. Um das Geschehen auf der Bühne integral mitzubekommen, bin ich deshalb stets genötigt, meinen Kopf leicht zur Seite zu neigen, damit ich am Umriss des Kopfs samt Haarschopf vor mir vorbei sehe. Theater erschliesst sich mir also lediglich in leichter Schräglage. So hat sich in meiner Erinnerung in all den Jahren ein ganzes Arsenal an sozusagen leicht schrägen Opern, Operetten, Musicals, Schauspielen und Tanzstücken angesammelt – wobei allerdings offenbleiben muss, ob dieses Schrägegefühl nicht auch mit gewissen Inszenierungen zusammenhängen könnte.

Letztmals verstellte mir der Kopf den Blick auf «Tosca». Aber bevor sich der Vorhang zu Giacomo Puccinis Oper hob, machte ich zu meiner Erleichterung eine Beobachtung, die mich einigermassen froh stimmt: Das Haupthaar auf dem Kopf vor mir beginnt sich zu lichten. Zwar ist erst ganz sachte zu erkennen, dass sich etwas in dieser Richtung tut. Aber die angehende Ausdünnung ist bereits unübersehbar; und manchmal geht das ja sehr schnell. Das lässt mich Hoffnung schöpfen. Wenn der haarige Verlust auch nur halbwegs regelmässig vonstatten geht, darf ich in der über- oder vielleicht in der überübernächsten Spielzeit möglicherweise damit rechnen, dass aus dem Kopf vor mir ein Glatzkopf geworden sein wird, der mir dannzumal eine bessere Sicht auf die Bühne gewährt.