Der Wolf hat in der Schweiz nur eine Zukunft, wenn ihn die Bevölkerung akzeptiert. Vor allem in den Bergkantonen schlägt ihm aber wenig Sympathie entgegen, schreibt Ostschweiz-Redaktor Adrian Vögele in seiner Analyse.
Und schon ist er wieder weg: Noch während der Thurgau über seinen ersten Wolf seit dem 19. Jahrhundert diskutiert, dürfte das Tier bereits weiter nach Westen gezogen sein – Spuren im Kanton Zürich deuten darauf hin. Dass sich Wölfe dauerhaft im Mittelland niederlassen, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Schweizer Berggebiete bieten ihnen bessere Lebensbedingungen. Bis jetzt jedenfalls. Denn politisch wird das Klima für die Raubtiere immer rauer. Nicht nur im Kanton Wallis, der die Aufhebung des Wolfsschutzes fordert. Auch in Graubünden, wo man lange deutlich zurückhaltender war und eine besonnene Wolfspolitik verfolgte, macht sich Nervosität breit. In einem Schreiben an den Bund spricht die Bündner Regierung von einer «Eskalation»: Im Januar und Februar hätten die Raubtiere 30 Schafe innerhalb von Elektrozäunen getötet. In einem Fall drang ein Wolf in einen Stall ein. Die Jagdbehörden sehen darin eine «unheilvolle Entwicklung». Solche Situationen könnten «unter Umständen» auch für Menschen gefährlich werden. Der Kanton fordert den Bund auf, das Jagdgesetz rasch zu verschärfen.
Dass die Bündner an solchen Vorfällen keine Freude haben, ist verständlich. Wolfsrudel sind für die Schweiz immer noch ein Novum, der Umgang mit ihnen bleibt eine Herausforderung. Doch wie gross das Risiko ist, das von den Wölfen ausgeht, ist umstritten. 2015 erhielten die Kantone Graubünden und St. Gallen vom Bund grünes Licht für den Abschuss zweier Wölfe des Calandarudels. Das Ziel: Die Tiere sollten wieder mehr Scheu vor Menschen und ihren Siedlungen zeigen. Die Abschussfrist verstrich ungenutzt, weil das Rudel nicht mehr in Siedlungsnähe auftauchte. Der WWF legte gegen die Abschussbewilligungen Beschwerde ein – und hatte Erfolg. Die kantonalen Verwaltungsgerichte urteilten, die Jagdbehörden hätten nichttödliche Massnahmen – etwa die Abschreckung der Wölfe mitAABB22Gummi- schrot – zu wenig ausgenutzt. Zudem gebe es keine Beweise für eine erhebliche Gefährdung von Menschen.
Die Einwände der Richter scheinen ungehört verhallt zu sein. Die Intervention der Bündner Regierung wird die politische Diskussion um den Wolf unnötig weiter anheizen. Dabei ist die Verschärfung des Jagdgesetzes ohnehin in Gang, ausgelöst durch die Motion des Bündner CVP-Ständerat Stefan Engler. Sie soll den Kantonen die «Regulierung» des Wolfsbestands durch Abschüsse ermöglichen. Auch präventive Abschüsse dürfen die Kantone gemäss Entwurf beschliessen. Damit erhalten sie bereits grossen Spielraum. Dass die Kantone diese Optionen überlegt und mit Augenmass nutzen würden, ist zu hoffen, scheint angesichts der aktuellen Entwicklung aber nicht garantiert. Mehr noch: Es besteht die Gefahr, dass die eidgenössischen Räte die aktuelle Revision abblasen und dem Anliegen des Kantons Wallis zustimmen: freie Jagd auf dem Wolf. Damit droht eine erneute Ausrottung der Tierart in der Schweiz.
Das Hauptargument des Kantons Wallis lautet: Der Wolf hat in der Schweiz keinen Platz für ein artgerechtes Leben. Das ist falsch. Gemäss einer Studie der Universität Zürich bietet ein Drittel des Staatsgebiets geeignete Bedingungen für die Raubtiere. Richtig ist: Der Kanton Wallis will nicht länger an einer Koexistenz von Mensch und Wolf arbeiten, die menschlichen Interessen haben Vorrang vor einer intakten Natur. Es wäre enttäuschend, wenn sich diese Ansicht durchsetzen würde.
Die Probleme der Alpwirtschaft würden sich mit dem Verschwinden des Wolfs nicht in Luft auflösen. Jährlich fallen während des Alpsommers in der Schweiz 300 bis 400 Nutztiere dem Wolf zum Opfer. Doch zehnmal so viele sterben durch Abstürze, Krankheiten und andere Einflüsse. Wenn eine Alp mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, ist das Auftauchen des Wolfs oft nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das bleibt in den Debatten meist ebenso unerwähnt wie die positive Funktion des Wolfs für das Ökosystem. Klar ist, dass der Wolf in der Schweiz nur eine Zukunft hat, wenn ihn die Bevölkerung vor Ort akzeptiert. Die Studie der Universität Zürich zeigt, dass es nach wie vor Bergregionen gibt, in denen die Einwohner dem Raubtier derzeit positiv gesinnt sind. Etwa in Teilen der Ostschweiz und Graubündens – und im Jura. Dass der «Thurgauer Wolf» das Mittelland westwärts durchquert, könnte sich somit als gute Idee erweisen.