Die St. Galler müssen ihrem ehemaligen Volkswirtschaftschef Josef Keller bis heute dankbar sein. Er liess die Buslinien im Sarganserland 2006 neu ausschreiben – damit war Postauto aus dem Rennen.
Der Fall im Kanton St. Gallen löste 2006 nationale Schlagzeilen aus: Der damals 58-jährige Volkswirtschaftsdirektor Josef Keller brauchte Polizeischutz nach der Drohung eines anonymen Wirrkopfs, ein Blutbad wie einst im Zuger Kantonsparlament anzurichten. Dies nachdem Keller die 17 Buslinien im Sarganserland neu ausgeschrieben hatte. Per Wettbewerb schlug er die bis zu diesem Zeitpunkt jahrelang von Postauto betriebenen Linien Bus Ostschweiz zu, einem Unternehmen mit österreichischer Minderheitsbeteiligung, das die gleiche Leistung wesentlich billiger erbrachte als die Betreiber der gelben Postautos. «Wettbewerb tut weh», titelte die NZZ damals und schrieb: «Eigentlich müssten die Bürgerinnen und Bürger aus dem Sarganserland ihrem Volkswirtschaftschef danken für sein umsichtiges Handeln.»
Statt Dankbarkeit schüttelte ein Sturm der Entrüstung die Region durch. Keller, der als Regierungsrat durchsetzte, was er sich vorgenommen hatte, hatte in ein Wespennest gestochen: In der hochemotional geführten Debatte zeigten sich die sieben Postautohalter in der Region betupft und reichten regionale Politiker gleich mehrere Vorstösse ein. Die Volksseele kochte: In Leserbriefen wurde Keller nicht etwa für seinen sorgsamen Umgang mit Steuergeldern gerühmt, sondern als Meuchler der gelben Postautos beschuldigt. Auf dem Höhepunkt rief eine Leserin gar zur Sezession auf – weg von St. Gallen, hin zu Graubünden.
Die Neuausschreibung ausgelöst hatte ein 2005 in Kellers Departement entworfenes Benchmarksystem, das die Kostenfaktoren und die Qualität im öffentlichen Verkehr neu gewichtete. Bisher hatte man bei Linienvergleichen auf die Kennzahlen des Bundesamts für Verkehr vertraut. Mit der Änderung des Eisenbahngesetzes 1996 war die Neuausschreibung von Verkehrslinien zwar schon seit 10 Jahren möglich: Im Kanton St. Gallen hatte sich aber bis zum Ablauf der Buslinienkonzessionen 2006 nichts bewegt. Keller schaute nun den Anbietern in allen Regionen auf die Finger; dabei schnitt das Sarganserland am schlechtesten ab.
Damit konfrontiert, hatte Postauto keine Erklärung, im Gegenteil: Das Unternehmen zweifelte die Methode an und blieb stur bei seinem Preis. Daraufhin lancierte Keller den Wettbewerb neu – mit einem erstaunlichen Resultat: Laut Insidern waren die Differenzen zwischen den Offerten riesig. Die Vollkosten pro Kilometer lagen im Sarganserland um 30 Prozent höher als in den andern Regionen. Das mag an teilweise ungünstigen Strukturen gelegen haben, «aber man hatte bei Postauto stets auch den Verdacht, dass bei den hohen internen Verrechnungspreisen einiges an abgeschöpften Gewinnen an den Wasserkopf in Bern ging», sagt ein Insider. Hat es damals schon Mauscheleien bei subventionierten Linien gegeben? «Das ist schwierig zu sagen. Aber es wurden sicher Leistungen aus Bern in Rechnung gestellt, die die Regionen mittragen mussten und die auf die einzelnen Linien verteilt wurden.»
Im Sarganserland schwenkte Postauto 2006 plötzlich um und offerierte auf die bisherigen jährlichen Leistungen von 4,4 Millionen Franken einen Preisnachlass von rund einer Million, nachdem der Kanton St. Gallen von einem jährlich wiederkehrenden Einsparpotenzial «von etwa 20 Prozent» ausgegangen war. «Postauto wollte den Zuschlag unbedingt.» Keller hätte Postauto auch gerne mit dem Auftrag betraut, weil er um die Symbolkraft der gelben Fahrzeuge wusste. Doch die Bus Ostschweiz AG, an der die österreichische Postbus GmbH eine Minderheitsbeteiligung hielt, bot die Leistung nochmals um eine halbe Million Franken tiefer an. Keller musste den Sieger berücksichtigen. Alles andere wäre rechtswidrig gewesen.
Die verlorenen Linien im Sarganserland hatten Postauto wachgerüttelt. Bei der Neuausschreibung auf der andern Seite des Rheins in Liechtenstein 2010 sollte sich die Schlappe nicht wiederholen. Die 2001 gegründete Postauto Liechtenstein Anstalt, eine Tochter von Postauto Schweiz, setzte sich gegen die Konkurrenten aus Liechtenstein, Schweiz und Österreich durch, der Auftrag mit einem Gesamtvolumen von 160 Millionen Franken läuft noch bis 2021 (Ausgabe vom 26. Juni).
Inzwischen verdichten sich die Hinweise, dass Postauto Schweiz auch in Liechtenstein ungerechtfertigt kassierte Subventionsgelder dafür einsetzte, um wettbewerbsfähig zu bleiben – laut dem Untersuchungsbericht zur Postautoaffäre sollen zwischen 2006 und 2011 «ungefähr 17 Millionen Franken» aus der Schweiz ins Fürstentum geflossen sein, die aus überhöhten Subventionen stammen.
Das inzwischen weiterentwickelte Benchmarksystem bewährte sich 2015 ein zweites Mal, als die Ostschweizer Kantone gemeinsam mit Postauto verhandelten. «Es entstand erneut der Eindruck, dass einiges nicht stimmt», heisst es beim Kanton. «Die Vorgaben aus Bern waren teilweise überrissen. Wir sind aufgrund der Vergleichswerte bestimmt aufgetreten, Postauto hat nachgeben müssen.»
Die Pionierleistung hat mittlerweile Nachahmer gefunden: Auch die Kantone Aargau, Bern und Luzern beziehen sich bei Offertverhandlungen inzwischen auf das Benchmarksystem aus der Ostschweiz.