Das Bildarchiv der ETH Zürich zapft das Wissen Freiwilliger an, um historische Bilder zu verorten. Die Ostschweizerin Nicole Graf leitet das Archiv. Mit Blog-Einträgen hält sie ihre Helfer bei der Stange und lenkt deren Aufmerksamkeit dahin, wo sie gebraucht wird.
"Wissen Sie mehr?", fragt Nicole Graf ihre "Crowd" jeden Montag. "Sie wussten mehr!", heisst es jeweils am Freitag. Graf leitet das Bildarchiv der Bibliothek der ETH Zürich. Mit ihren Blogeinträgen richtet sie sich vorwiegend an die freiwilligen Helfer, auf die sie bei ihrer Herkulesaufgabe zurückgreifen kann: Der Erschliessung der 375'000 Bilder, die in der Datenbank E-Pics online angeschaut und grösstenteils kostenlos heruntergeladen und weiterverwendet werden können.
Ein ganzes Set von Bildern aus der Ostschweiz konnte Graf, die aus Ausserrhoden stammt und im Rheintal aufwuchs, so vor kurzem mit neuen Stichworten im Blog präsentieren. Der Flawiler Hobby-Historiker Anton Heer hatte sich dafür wieder einmal ins Zeug gelegt. Nach dem prächtigen Titelbild eines Bodensee-Hochwassers in Rorschach - "1890 ist wahrscheinlich" - folgen unter anderem Bilder vom Hafen, Luftaufnahmen vom Bahnhof und der Bleicherei Kopp, geschossen vom St.Galler Flugpionier Walter Mittelholzer. Heer schafft es in der Crowd-Statistik des ETH-Bildarchivs in die Top-Ten. 643 Bilder hat er bearbeitet, seit die Kommentarfunktion auf E-Pics vor gut einem Jahr online ging. Insgesamt kamen Informationen zu 13'000 Bildern zusammen, geliefert von 742 Freiwilligen.90 Prozent davon sind Männer, wie der Blick in die Statistik weiter zeigt, drei von fünf im Pensionsalter. "Frauen dieser Generation sind etwas zurückhaltender", sagt Graf.
Bildband zu Walter Mittelholzer
Die "Schwarmintelligenz", das Wissen vieler, auf das Graf zurückgreifen kann, ist bei ihrer Arbeit von unschätzbarem Wert. "Unser Team von sechs Mitarbeitenden ist für ein Archiv mit derzeit 3,2 Millionen Bildern
von 1860 bis heute zuständig." Sie stammen aus unterschiedlichen Quellen. Die wichtigsten sind die ETH Zürich selbst, das Archiv der Fotoagentur Comet, die 1999 Konkurs ging, und das Bildarchiv der Swissair, in welchem auch rund 18'000 Fotografien Mittelholzers enthalten sind. Für die Bildbeschreibungen des Swissair-Archivs wandte das ETH-Bildarchiv den Crowdsourcing-Ansatz zum ersten Mal an. Aus seinem grossen Fundus gibt das Archiv auch eine themenbezogene Bildband-Reihe heraus. Ende April folgt Band 6, der sich ganz Walter Mittelholzer widmet.
Ohne Hilfe chancenlos
Jedes Jahr gehen aus dem ETH-Bildarchiv rund 40'000 Fotografien online. Dafür müssen sie erst digitalisiert werden. "Dann haben wir einen Schwarz-Weiss-Film mit 36 Bildern. Und beschriftet ist er beispielsweiseschlicht mit 'St.Gallen, neue Gebäude'", sagt Graf. Ihr Team alleine hätte keine Chance, diese Flut zu bewältigen. Zumal oft selbst die nötigen Informationen fehlen, um überhaupt mit der Recherche beginnen zu können. Für einen Pensionär, der die gezeigten Orte aus seiner Jugend kennt, ist es hingegen ein Kinderspiel, die Bilder zu beschriften. Und Graf nennt Beispiele, bei denen sogar bereits abgerissene Häuser aus den 1920er-Jahren anhand alter Landkarten oder Adressbücher erkannt wurden. Die Informationen, welche die Crowd übermittelt, seien in der Regel gut recherchiert und verlässlich.
Und die Hinweise kommen zahlreich: Rund 50 Mails gehen täglich beim Archiv ein. Diese zu bearbeiten ist für Nicole Graf und ihr Team eine wichtige Aufgabe geworden. Mit dem Blog kann sie das Interesse der Helfer auf bestimmte Themen lenken. Zuletzt rief Graf die Crowd beispielsweise dazu auf, bei der Beschriftung einer Fotoreportage von der Grimsel-Staumauer zu helfen. "Viele suchen förmlich nach Bildern, die sie mit Informationen versehen können. So kann ich ihnen etwas Inspiration bieten." Denn während die Freiwilligen zu Beginn oft ihre Wohn- oder Heimatorte abarbeiten, brauchen sie später neue Betätigungsfelder. Die Blogeinträge unter der Rubrik "Sie wussten mehr!" sind hingegen als Würdigung der Arbeit gedacht. Graf sieht sich dabei auch ein Stück weit als Animateurin: "Ich merke, dass diese Betreuung die Crowd motiviert." So habe das ETH-Bildarchiv im November den "harten Kern" zu einem Kennenlern-Apéro eingeladen. Die Zahl der Hinweise schnellte darauf hin in die Höhe.
In neue Welten eintauchen
Die heute 46-jährige Nicole Graf hat nach der Matura in Heerbrugg zunächst Bibliothekarin gelernt. Nach einem Studium an der Universität Bern war sie dort unter anderem als wissenschaftliche Assistentin tätig, ehe sie 2005 zur ETH-Bibliothek wechselte. Seit März 2008 leitet sie das Bildarchiv. Die Arbeit mit Bildern und den Geschichten dahinter fasziniere sie. "Das Hochwasser-Bild aus Rorschach besticht durch die vielen Details wie etwa die Kleidung und Frisuren oder die Architektur." Dieses "einmalige Kulturgut" zu archivieren und zugänglich zu machen sei ihr ein wichtiges Anliegen. Es gebe kaum ein Thema, für das sie sich nicht begeistern könne, seien es Architekturfotografien aus den USA, sei es das Eisenbahnwesen in der Schweiz. "Wissen Sie mehr?", will Graf zu letzterem bald wieder ihre Leser fragen. Die Eisenbahnfans seien ja zahlreich. "Das gibt sicher eine Super-Crowd."