Gastbeitrag zum Reformationsjubiläum
«Selber denken – die Reformierten.» So die Parole einer PR-Aktion der Schweizer Reformierten Ende 2000. «Als Katholik stocke ich einen Augenblick», schrieb damals der Kommunikationsexperte Iwan Rickenbacher. «Wer möchte ausserhalb der evangelisch-reformierten Kirche nicht auch eigenständig denken?» 16 Jahre später tönt es aus Anlass des Reformationsjubiläums teilweise ähnlich schrill: Erst seit der Reformation könne und dürfe man frei denken, hört man. Manche Katholiken reagieren allergisch. Haben Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin und viele andere denn nicht ebenfalls frei gedacht? (In den Jahren unmittelbar vor der Reformation waren ihre guten Gedanken allerdings eher in den Hintergrund gerückt.) Und wie steht es mit den Humanisten, etwa mit der berühmten Schrift «Über die Würde des Menschen» von Pico della Mirandola von 1486, die Zwingli sehr geschätzt hat?
In einer Rede in Zürich sagte Kardinal Kurt Koch bereits im Oktober 2013, wir müssten bedenken, dass es nach der Reformation zur Kirchenspaltung und im 16. und 17. Jahrhundert zu blutigen Konfessionskriegen gekommen sei. Und ferner sei zu bedenken, dass sich die Reformation Martin Luthers zwar von der in politische Wirren verwickelten Herrschaft des Papsttums befreit habe. Alsbald sei sie aber in eine ähnliche Abhängigkeit von den Fürsten geraten. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz hätten darüber hinaus auch protestantische Obrigkeiten theologisch nicht genehme Meinungen (beispielsweise der Täufer) gewaltsam unterdrückt. Die Behauptung – so immer noch Kurt Koch – dürfe einem nicht mehr so leicht auf die Lippen kommen, mit der Reformation sei die «Kirche der Freiheit» geboren worden. Der St. Galler Stiftsbibliothekar Cornel Dora erinnert in der gestern erschienenen «Schweizerischen Kirchenzeitung» an den Bildersturm im St. Galler Münster am 23. Februar 1529. Die Idee der persönlichen Verantwortung und Freiheit, die Idee, dass die Menschen alle gleich sind vor Gott, sei darüber hinaus keine Erfindung der Reformatoren. Diese Werte hätten von Anfang an zum Grundbestand aller christlichen Konfessionen gehört. Als ökumenisch engagierter ehemaliger Kopräsident der Evangelisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission der Schweiz empfehle ich mehr Nüchternheit und Zurückhaltung. Wir Reformierten haben zwar gute Gründe, das Reformationsjubiläum zu begehen – aber bitte nicht triumphalistisch! Und vor allem ist es unerlässlich, die religiöse Tiefendimension der Reformation nicht zu unterschlagen, auch wenn sie nicht so leicht zu kommunizieren ist. Vor 500 Jahren ging es nicht abstrakt um Gedankenfreiheit. Gottfried Locher, Präsident des Rats des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, betonte mehrfach: Das Anliegen der Reformation verdeutlichen am besten die vier Grundsätze «allein die Schrift», «allein Jesus Christus», «allein die Gnade» und «allein der Glaube». Wie Martin Luther formulierte: Wort Gottes ist, «was Christus fördert».
Und zur Reformation in der Schweiz: Ein Grunderlebnis Huldrych Zwinglis war seine Erkrankung an der Pest im Jahr 1520. Im Rückblick dichtete er sein ergreifendes «Pestlied», in dem er sich seinem Gott ganz in die Arme warf. Von da an setzte er auf das Titelblatt fast aller seiner Publikationen als Motto das Christuswort Matthäus 11,28: «Kommt her zu mir alle, die sich abarbeiten und eine Last tragen müssen, ich will euch Ruhe geben.» In der Regel liess er dazu ein Christusbild abdrucken: entweder ein Auferstandener, der die Arme einladend ausbreitet, oder Jesus, wie er die Menschen auffordert, das Kreuz, das sie belastet, vor ihn hinzulegen. Wer die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes ins Zentrum des Reformationsjubiläums stellt, wird erleben, dass dann auch unsere katholischen Freunde nicht allergisch reagieren, sondern vielleicht sogar leise mitfeiern.
Frank Jehle
Theologe und ehemaliger
Seelsorger und Dozent HSG