ROMANSHORN. Jutta W. führte 14 Jahre lang eine Liebesbeziehung mit der Bodensee-Fähre Euregia. Doch das ist vorbei. Die Friedrichshafnerin glaubt auch nicht, dass sie noch einmal ein Objekt wird lieben können – geschweige denn einen Menschen.
"Kommen Sie, wir setzen uns an meinen früheren Lieblingsplatz." Die 52-jährige Jutta W. steigt die Stufen aufs Deck der "Euregia" empor und steuert auf ein rundes Tischchen mit Hockern an einem Fenster zu. Tausende Male sass sie auf Fahrten von ihrem Wohnort Friedrichshafen nach Romanshorn und zurück hier. Damals, als die Bodensee-Fähre für Jutta W. das Glück auf Erden bedeutete. Damals, als sie eine Beziehung mit der Fähre führte. Damals, als sie von der Schiffsmannschaft Miss Euregia genannt wurde.
Die grosse Liebe
Seit sich Jutta W. erinnern kann, fühlte sie sich nicht zu Menschen, sondern zu Objekten hingezogen. Zum ersten Mal verliebte sie sich als Zwölfjährige: in ein Wasserflugzeug, später dann meist in Schiffe. Gewisse geometrische Formen waren es, die sie ansprachen. Fasziniert war sie auch davon, dass Fähren zwischen zwei Ufern pendeln, was ihrer persönlichen Empfindung entsprach – die gelernte Dreherin hatte vor Jahren einmal eine Geschlechtsumwandlung ins Auge gefasst, dann aber wieder Abstand davon genommen. Die grösste Liebe ihres Lebens traf W. Anfang Juni 1996: die frisch vom Stapel gelaufene Euregia. "Ich verliebte mich Hals über Kopf in sie", erinnert sie sich. Es folgten lange Jahre, in denen sie ihr Leben komplett auf die Fähre ausrichtete. Sie stattete ihre Wohnung mit demselben Teppich aus, den die Euregia hatte. Sie verbrachte all ihre freie Zeit auf dem Schiff, pendelte bis zu zwölf Stunden zwischen Friedrichshafen und Romanshorn hin und her. Legte Hand an, wenn Menschen die Euregia-Einrichtung mit Kaugummis oder Aufklebern verunstaltet hatten. Und bezeichnete die Euregia als vollwertigen Partner. "Wobei sexuelle Gefühle in meinem Fall immer nur eine marginale Rolle spielten. Sie kamen höchstens auf, wenn ich spürte, mit welcher Kraft sich die Euregia durch den See pflügte."
Eine gewisse Vertrautheit
An diesem nebligen Oktobervormittag wird die Überfahrt von Friedrichshafen nach Romanshorn für Jutta W. zu einer Reise in ihre eigene Vergangenheit. Seit sich die gebürtige Darmstädterin 2010 nach 14 Jahren Beziehung von der Euregia gelöst hat, ist es nämlich erst das zweite Mal, dass sie wieder mit ihr unterwegs ist. Sie blieb dem Schiff nicht etwa aus Angst fern, ihm wieder zu verfallen: Sie hatte schlicht kein Bedürfnis mehr, es zu sehen, sich auf ihm aufzuhalten. So spürt sie denn auch weder Nostalgie noch Seelenschmerz, ja nicht einmal ein Kribbeln, als die Euregia in Richtung Romanshorn ablegt. Nur diese gewisse Vertrautheit, die da ist, wenn man mit einer früheren Liebe nach längerem wieder einmal etwas Zeit verbringt.
"Der Zauber war weg"
Als die Liebe von Jutta W. zur Euregia auf ihrem Höhepunkt war, überstrahlte die Fähre alles andere. Was die Friedrichshafnerin früher geliebt hatte, war nicht mehr wichtig. Doch nichts ist mehr, wie es war, seit vor zwei Jahren durch einen Vorfall plötzlich wieder ein verdrängtes Kindheitstrauma in ihr Bewusstsein rückte. Jutta W. nahm dies zum Anlass, über den Einfluss des damals Erlebten auf ihr Gefühlsleben nachzudenken. Und fand nach und nach ihre ganz persönliche Erklärung dafür, weshalb sie seit frühen Jahren nie in der Lage war, körperliche Nähe zu Menschen zuzulassen und stattdessen eine Beziehung mit einer Fähre führte. Die Kehrseite der Erkenntnis: Ihre Gefühle für das Schiff verflüchtigten sich zusehends. "Der Zauber war weg, die Absurdität dieser Beziehung wurde mir zunehmend klar", stellt Jutta W. fest. Es war ein bitteres Erwachen für sie. Das, was ihr als Kind angetan worden war, hatte sie nun nicht mehr nur eines Lebens mit Partner und Kindern beraubt. Jetzt forderte das Erlebte ein weiteres Opfer: ihre Liebe zu Objekten und insbesondere zur Bodensee-Fähre. "Miss Euregia gibt es nicht mehr", stellt sie fest.
"Es hatte fanatische Züge"
Jutta W. steht auf, tastet ein Fenster an der Euregia ab, an dem sich Rückstände eines Klebebandes befinden. Und schüttelt den Kopf. "So etwas stört mich", sagt sie. Doch anders als früher blutet ihr das Herz nicht mehr darob. Wie weggeblasen ist auch das Gefühl von Eifersucht, das die Frau verspürte, wenn sie die Euregia bei Sonderfahrten mit geschlossenen Gesellschaften ziehen lassen musste. Und so ist bei aller Bitterkeit auch eine gewisse Erleichterung zu spüren, wenn Jutta W. über das Ende ihrer Liebe zur Euregia spricht: "Es war eine sehr intensive, kraftraubende Beziehung, welche meine ganze Freizeit in Anspruch nahm." Das Ganze habe fanatische Züge getragen, sie sei besessen von der Fähre gewesen. Jutta W. bereut die Zeit mit der Euregia aber nicht. Sie habe diese Liebe genossen. Das Schiff sei ihr Leben gewesen, sie wünsche ihm immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel, sagt sie. Und fügt an: "14 Jahre Beziehung – das schaffen nicht viele!"
Die Hoffnung auf Liebe
Seit sich Jutta W. von der Euregia gelöst hat, lebt sie ohne Beziehung. Die Friedrichshafnerin spürt die Lücke, welche in ihrem Seelenleben entstanden ist. Der graue, wolkenverhangene Himmel über Romanshorn, wo die Fähre bald anlegen wird, entspricht der Stimmungslage der Frau, die seit Jahrzehnten in einer Zahnradfabrik arbeitet. "Das Leben ohne Liebe ist trist. Ich fühle mich oft leer", sagt sie. Der Glaube daran, dass sie jemals wieder tiefe Gefühle wird empfinden können, ist ihr abhanden gekommen. "Es ist wie ein Schalter, der in meinem Kopf umgelegt worden ist. Ich sehe die Objekte mittlerweile so wie jedermann und kann das Kopfschütteln jetzt nachvollziehen, das meine Liebe zur Euregia vielfach provoziert hat." Eine kleine Hoffnung aber bleibt Jutta W.: Jene, dass sie irgendwann doch wieder fähig sein wird zu lieben. Nicht einen Menschen - das schliesst sie kategorisch aus. Sondern eine Sache. "Denn: Lieber eine Objektliebe als gar keine Liebe", sagt sie.
Der Begriff der Objektsexualität (auch Objektliebe, Objektophilie) bezeichnet die geistige und zumeist auch körperlich ausgelebte Liebe zu Gegenständen. Die Betroffenen nehmen diese in jeder Hinsicht als gleichwertige Beziehungspartner wahr. Geprägt hat den Begriff der Objektsexualität eine Schwedin, die sich in den 1960er-Jahren in die Berliner Mauer verliebte. Sie heiratete diese schliesslich in einem feierlichen Akt und nennt sich seither Eija-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer. Auf www.berlinermauer.se und www.berlin-wall.org beschreibt sie detailliert ihre Beziehung zur Mauer und die Trägödie, als diese 1989 eingerissen wurde.
Weltweit sind nur wenige Fälle von Objektsexualität dokumentiert. So gibt es beispielsweise eine Amerikanerin, welche den Eiffelturm liebt und ihren Namen nach einer symbolischen Hochzeit zu Erika Eiffel ändern liess. Zudem sind Menschen bekannt, die mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen, Tischkreissägen, Lokomotiven, einer Juke Box oder einer Orgel eine Beziehung führen. Selbst die Wissenschaft steht in der Erforschung der Objektsexualität noch am Anfang. Psychologin und Sexualwissenschaftlerin Verena Schönbucher vom Universitätsspital Zürich bestätigt: "Die Ursachen von Objektsexualität sind bis anhin nicht geklärt worden – es lassen sich keine definitiven Aussagen über deren Ursprünge machen." Ganz generell hält sie fest, Menschen seien oft geprägt durch frühkindliche Erfahrungen. "Die Objektsexualität könnte eine Folge von Ängsten sein, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen und Körperkontakt zu Menschen zuzulassen." Zudem lasse sich ein Objekt jederzeit kontrollieren - anders als ein Partner aus Fleisch und Blut.
Für Verena Schönbucher steht fest: Objektsexualität geht weit über das Phänomen des Fetischismus hinaus. Bei letzterem entsteht sexuelle Erregung dank eines bestimmten Gegenstands. Davon, eine Beziehung mit diesem zu führen und ihn als gleichwertigen Partner zu sehen, ist bei Fetischisten allerdings nicht die Rede - anders als bei Objektophilen. Für Schönbucher passt die Objektsexualität insofern in die moderne Gesellschaft, als diese in den Bereichen Liebe und Sexualität wesentlich mehr zulasse als früher. Das muss laut der Sexualforscherin aber nicht zwingend heissen, dass die Betroffenen in ihrem Umfeld dann auch tatsächlich auf Verständnis für ihre Neigung stossen. "Gerade im sexuellen Bereich gilt: Je weniger etwas bekannt ist, desto weniger Verständnis ernten Betroffene dafür", sagt Verena Schönbucher. (dwa)
Informationen und Kontakt für Betroffene: http://www.objektophilia.de, http://loveforobjects.siteboard.org/, Mailadresse: ad.forumos@web.de