Schienenverkehr
SBB verzichtet auf schnelle Kurvenfahrten mit «Schüttelzug» und setzt stattdessen auf Neubaustrecken in die Ostschweiz und Romandie

Die Neigetechnik in den neuen Doppelstock-Zügen sollte milliardenteure Gleis-Ausbauten überflüssig machen. Doch daraus wird nichts: Die SBB verzichtet darauf, den als «Schüttelzug» bekannten FV-Dosto schneller fahren zu lassen. Stattdessen werden wieder Neubaustrecken in die Ostschweiz und Romandie geprüft.

Samuel Thomi
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Vincent Ducrot zieht die Notbremse: Bei den als «Schüttelzügen» bekannten neuen Doppelstockkompositionen wird die Neigetechnik nie voll angewendet werden. (Archivbild)

Vincent Ducrot zieht die Notbremse: Bei den als «Schüttelzügen» bekannten neuen Doppelstockkompositionen wird die Neigetechnik nie voll angewendet werden. (Archivbild)

Keystone

Nach jahrelangen Problemen mit der Neigezugtechnik ist klar: Die neuen Fernverkehrs-Doppelstockzüge (FV-Dosto) der SBB werden nie wie geplant zum Einsatz kommen. Wie Bahnchef Vincent Ducrot am Freitag in Bern vor den Medien erklärte, will die Bundesbahn darauf verzichten, die extra entwickelte Wankkompensation an den Zügen vollständig einzusetzen. Konkret bedeutet dies, dass die FV-Dosto nicht wie vorgesehen dank mechanischer Neigung Kurven schneller durchfahren können. Betroffen davon sind vorab Fernverkehrsverbindungen in die Ostschweiz und Romandie.

«Als Technik für einen Nischenmarkt und hochkomplexe Eigenanfertigung ist diese vergleichsweise fehleranfällig, aufwändiger im Unterhalt und damit nicht zukunftsfähig»

... begründet die SBB den Verzicht auf das schnelle Kurvenfahren. Der vom Verwaltungsrat bereits am Donnerstag gefällte Entscheid eröffnet laut SBB jedoch die Möglichkeit, den Fahrkomfort des FV-Dosto «weiter zu verbessern».

Neubaustrecken statt weitere 200 Millionen Investitionen

Und auch an den bislang angepeilten Fahrzeitgewinnen von zwei respektive fünf Minuten in die Ostschweiz und Romandie will die SBB laut Vincent Ducrot festhalten. Allerdings nicht mehr mit neuem Rollmaterial. Vielmehr würden nun wieder Neubaustrecken zwischen Winterthur und St. Gallen sowie Bern und Lausanne geprüft. Für Letztere soll bereits im Herbst eine erste Studie vorliegen, sagte Vincent Ducrot.

Die neuen FV-Dosto-Kompositionen verfügen über bis zu 1300 Sitzplätze. Seit vier Jahren werden die Triebzüge hauptsächlich auf den Hauptverkehrsachsen Genf – St.Gallen sowie Basel / Zürich – Chiasso eingesetzt.

Sollte helfen, eine Milliarde Franken Ausbaukosten einzusparen: der neue Fernverkehrs-Doppelstockzug der SBB. Doch daraus wird nun nichts.

Sollte helfen, eine Milliarde Franken Ausbaukosten einzusparen: der neue Fernverkehrs-Doppelstockzug der SBB. Doch daraus wird nun nichts.

Max Tinner

Die Romandie reagierte postwendend auf den Entscheid der SBB. Und dies äusserst geharnischt. Damit werde die Westschweiz «endgültig abgehängt», kritisierten die kantonalen Verkehrsdirektoren. Um die Anbindung mit dem öffentlichen Verkehr über den Röstigraben sicherzustellen, fordern die Westschweizer Verkehrsdirektoren «so schnell wie möglich eine robuste und leistungsfähige Infrastruktur auf der Achse Bern-Freiburg-Lausanne-Genf».

Günstige Alternative kam nie zum Fliegen

Vor zehn Jahren war für den Bau dieser Neubaustrecke von Baukosten in der Höhe von einer Milliarde Franken ausgegangen worden. Als günstigere Alternative dazu setzte die SBB auf Züge, die dank einer Wankkompensation schneller durch Kurven fahren sollten. Doch die dazu nötige Eigenentwicklung zusammen mit dem Bahnbauer Bombardier kam nie wirklich zum Fliegen.

Die Eigenentwicklung hat drei Ziele: das schnelle Fahren in Kurven, allgemein den Fahrkomfort zu steigern und allfällige Seitenwinde zu kontrollieren. Doch nur zwei dieser drei Ziele funktionieren heute. Wegen ungemütlichen Kurvenfahrten machen die neuen Doppelstockzüge seit der Inbetriebnahme immer wieder als «Schüttelzug» Negativschlagzeilen.

Nachdem in den vergangenen Jahren bereits 32 Millionen Franken in die Weiterentwicklung der Wankkompensation gesteckt wurden, zieht die SBB nun die Notbremse. Wie Ducrot am Freitag sagte, drohen den SBB nämlich weitere Kosten von bis zu 200 Millionen Franken. Diese sind laut dem Bahnchef allerdings nicht zu rechtfertigen. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die FV-Dosto-Kompositionen in den 2040er-Jahren wohl bereits ihr Lebensende erreichen werden. Die SBB zieht also spät, aber gerade noch rechtzeitig, den Nothahn.

«Zum richtigen Zeitpunkt stoppen»

Vincent Ducrot bezeichnete den Komfort in den neuen Doppelstockzügen «trotz schwierigem Start» zwar noch immer als «ungenügend». Dank dem nun getroffenen Entscheid könne die Bahn weitere Investitionen allerdings noch «zum richtigen Zeitpunkt stoppen». Überhaupt war der SBB-Chef vor den Medien sichtlich darauf bedacht, die Bedeutung der noch immer nicht funktionstüchtigen Wankkompensation herunterzuspielen.

Nach zwei Updates durch den Hersteller funktioniere die Eigenentwicklung inzwischen «viel besser», sagte Linus Looser. Laut dem Leiter Produktion Personenverkehr werden die mit Bombardier vereinbarten Eckwerte inzwischen eingehalten. Entsprechend wolle die Bundesbahn auch an zwei der oben erwähnten Funktionen der Wankkompensation festhalten und nur auf das schnelle Kurvenfahren verzichten.

Auf weitere Eigenanfertigungen bei Rollmaterialbeschaffungen will die SBB laut Linus Looser jedoch verzichten. Im Fernverkehr wolle die Bahn künftig nur noch auf bewährtes, doppelstöckiges Rollmaterial setzen.

Milliardeneinsparung wird wieder Thema

Die von Bombardier speziell für die SBB entwickelte Wankkompensation des FV-Dosto kostete laut den Bundesbahnen weniger als 100 Millionen Franken. Dank schnelleren Kurvenfahrten bereits ab dem Jahr 2027 wollte die Bundesbahn insbesondere auf den Teilstrecken Lausanne – Bern und Zürich – St.Gallen ohne grössere Ausbauten Einsparungen von bis zu zehn Prozent der Fahrzeit realisieren.

Ab 2035 sollten die neuen FV-Dosto dann das Rückgrat sein, um das Angebot im Zugverkehr der ganzen Schweiz massiv ausbauen zu können. Laut SBB-Website sollen die Doppelstockzüge dereinst die grösste Flotte des Schweizerischen Fernverkehrs bilden.

Nach Verspätungen als «Pannenzug» in Betrieb

2010 hat der damalige SBB-Chef Andreas Meyer 59 FV-Dosto für 1,9 Milliarden Franken bei Bombardier bestellt. In der Folge erwies sich diese bislang grösste Rollmaterialbeschaffung jedoch als Debakel. Aus verschiedensten Gründen verzögerte sich die Inbetriebnahme um Jahre. Und als diese dann endlich im Linienverkehr eingesetzt wurden, kam es überdurchschnittlich oft zu Ausfällen und die Zugkompositionen wurden aus dem Fernverkehr vorübergehend wieder abgezogen. Doch auch seitdem die als «Pannenzug» bekannten neuen FV-Dosto fahrplanmässig im Fernverkehr unterwegs sind, reissen Meldungen von Passagieren, die über Unwohlsein klagen, nicht ab.

Wie SBB-Chef Vincent Ducrot am Freitag sagte, sind bis auf zwei bestellte Kompositionen inzwischen alle neuen Doppelstockzüge in Betrieb. Die letzten sollen diesen Monat sowie im August eintreffen. Als Ersatz für die Verspätungen lieferte Bombardier den SBB drei zusätzliche Zugskompositionen. Der deutsche Zughersteller ist inzwischen vom französischen Transporttechnikkonzern Alstom übernommen worden.

Der Kaufvertrag mit dem Hersteller enthält auch eine Option für weitere hundert Triebzüge. Diese will die SBB jedoch nur bei einem allfälligen Ausbau des Bahnangebots einlösen. Ein entsprechender Bedarf im Fernverkehr ist laut Ducrot derzeit allerdings nicht in Sicht.