«Aus der Zeit des Kalten Krieges»

Der Nachrichtendienst soll neu umfassend überwachen können. Der St. Galler Staatsrechtler Rainer J. Schweizer warnt vor dem Gesetz: Der Aufbau einer «präventiven Geheimpolizei» erschwere die Arbeit der Strafverfolger.

Tobias Gafafer
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Rainer J. Schweizer kritisiert, dass mit dem neuen Gesetz etwas «komplett ausserhalb der demokratischen Öffentlichkeit» aufgebaut werde. (Bild: Urs Jaudas)

Rainer J. Schweizer kritisiert, dass mit dem neuen Gesetz etwas «komplett ausserhalb der demokratischen Öffentlichkeit» aufgebaut werde. (Bild: Urs Jaudas)

BERN. Der Geheimdienst steht vor einem grundlegenden Wandel. In der Märzsession berät der Nationalrat über die bislang grösste Reform. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) soll umfassende Kompetenzen erhalten: Neu soll er im Inland mit Trojanern präventiv in Computer eindringen, private Räume verwanzen und Telefone abhören können. Auch im Ausland soll der NDB die Kommunikation anzapfen können. Der Widerstand gegen das Gesetz schwindet. Es stand stets im Schatten einer anderen umstrittenen Vorlage, der Revision des Gesetzes über die Überprüfung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf). Sie betrifft die Strafverfolger und nicht die präventive Überwachung. Vor allem aber hat der Wind seit dem Anschlag von Paris und der Verhaftung mutmasslicher Terroristen des Islamischen Staats (IS) in der Schweiz gedreht. Nun brauche es das neue Gesetz ohne Abstriche, sagte etwa Nationalrat Walter Müller (FDP/SG) (Ausgabe vom 9. Januar).

Mehr Geheimdaten denn je

Doch skeptische Stimmen sind nicht verstummt. Zu den schärfsten Kritikern gehört Rainer J. Schweizer, emeritierter Professor für Staats- und Völkerrecht an der Uni St. Gallen. Es handle sich um ein Konzept, das aus der Zeit des Kalten Krieges stamme – und nicht der heutigen offenen Demokratie entspreche. Schweizer stört sich zum einen an einem bisher unbeachteten Punkt, dem Verhältnis des Geheimdienstes zu den Strafverfolgern, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung sagt. Mit dem Gesetz könne der NDB neu mehr überwachen als jede Schweizer Staatsanwaltschaft. «Man macht ihn nach US-Vorbild zu einer präventiven, selbständigen Geheimpolizei.» Das Verhältnis zu den Staatsanwaltschaften und zur Polizei sei aber kaum geregelt. «Es gibt keine Garantie, dass der NDB ihnen rechtzeitig Informationen weitergibt.» Dies bleibe im Ermessen des Geheimdienstes. Zudem sei fraglich, ob dessen Informationen überhaupt in einem Strafprozess verwertet werden könnten. Das alles erschwere die Arbeit der Bundesanwaltschaft (BA) und der kantonalen Staatsanwaltschaften. Die BA untersucht etwa den Fall der mutmasslichen Schweizer IS-Zelle.

Ungenügende Kontrolle

Zum anderen kritisiert Schweizer die ungenügende Kontrolle. «Man baut etwas auf, was komplett ausserhalb der demokratischen Öffentlichkeit ist.» Zwar ist vorgesehen, dass Massnahmen wie das Anzapfen der Telekommunikation oder das Eindringen in Computer von einem einzelnen Richter des Bundesverwaltungsgerichtes (BVG) und vom Verteidigungsminister bewilligt werden müssen. Zudem kontrolliert die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments den NDB. Doch laut Schweizer reichen diese geheimen Kontrollen nicht, zumal die Betroffenen kaum Rechte hätten. Im Gesetz steht, dass überwachte Personen nach Abschluss der Operation über die Gründe und Umstände informiert werden. Bei einem «überwiegenden öffentlichen Interesse» könne der NDB dies aber unterlassen. Für Schweizer steht fest: «Betroffene werden in den meisten Fällen nachträglich nie erfahren, dass sie überwacht worden sind.» Er schlägt deshalb vor, dass das Datenschutzgesetz gelten soll, das Betroffenen mindestens nachträglich mehr Rechte garantiert. Zudem solle das BVG seine Genehmigungen für Überwachungen anonymisiert offenlegen.

Vollmacht für Geheimdienst?

Mehr noch: Schweizer kritisiert die erhebliche Erweiterung des Wirkungsfeldes des NDB. Zu den Aufgaben des Dienstes soll nicht nur die Bekämpfung des Terrorismus, der Spionage, der Proliferation biologischer und nuklearer Waffen sowie des gewalttätigen Extremismus gehören, sondern auch der Schutz kritischer Infrastrukturen und die Wahrung «wesentlicher Landesinteressen», etwa des Finanzplatzes. Die letzten zwei Aufgaben gehen für Schweizer weit über den Staatsschutz hinaus. In der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats hatten linke und grünliberale Politiker ebenfalls entsprechende Bedenken. Die Mehrheit folgte aber dem Bundesrat. Über diese und weitere Minderheitsanträge wird das Plenum Mitte März entscheiden. Die Fahne für die Beratung des Gesetzes umfasst fast hundert Seiten.