Islamistische Gewalttaten sind auch in der Schweiz zur realen Bedrohung geworden. Indes gibt es keinen Grund, in politischen Aktionismus zu verfallen. Entscheidend sind ein kühler Kopf, trotzige Gelassenheit – und die Rückbesinnung auf urschweizerische Werte. Von Pascal Hollenstein
Es sei nur eine Frage der Zeit, bis der islamistische Terror auch die Schweiz erreiche, heisst es in diesen Tagen mit ihren schrecklichen Anschlägen bisweilen. Die Aussage ist falsch: Er ist schon da. Islamistische Gewalttäter oder solche, die es noch werden könnten, leben mitten unter uns. Ihre Untaten verüben sie zwar – vorerst noch – als sogenannte Jihadreisende in anderen Ländern. Oder sie konnten, wie im Fall der Schaffhauser IS-Zelle, vereitelt werden. Aber die Gewalttäter sind da.
Zudem sind Schweizer bereits Opfer des Terrorismus geworden, zuletzt beim Lastwagenattentat im französischen Nizza. Der Terror holt sich aus unserer Mitte seine Opfer. Zwar hat es noch keinen Anschlag auf Schweizer Staatsgebiet gegeben. Aber gerade individuelle Gewalttäter sind schwer zu entdecken; sie entgehen selbst dem engmaschigsten Überwachungsnetz. Der Staat kann sich für die Sicherheit seiner Bürger einsetzen, aber er kann sie nicht garantieren. Kein Staat konnte das je. Und ein offenes, pluralistisches Land wie die Schweiz kann es schon gar nicht.
Der Befund ist besorgniserregend. Aber er ist kein Grund für Panik oder Fatalismus. Auch wenn kein Gesetz und kein noch so hochgerüsteter Geheimdienst den Terror je zu 100 Prozent verhindern wird, so kann und muss die Sicherheitslage doch stetig verbessert werden. Die Schweizer werden im September an der Urne die Gelegenheit haben, mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz einen hierfür notwendigen und massvollen Schritt zu tun. Dabei wird es nicht bleiben können. Die Freiheitsrechte sind zu wahren. Aber unser Abwehrdispositiv muss der Realität einer neuen Bedrohung angepasst werden.
Die Hände einfach in den Schoss zu legen, ist also keine Option. Genauso wenig ist es zielführend, den Terror kleinzureden, wie dies etwa Peter Bodenmann in der «Weltwoche» getan hat. «Am gleichen Tag, als in Nizza 84 Menschen starben, wurden weltweit mehr als 3400 Personen Opfer des Molochs Verkehr», rechnet der ehemalige SP-Präsident und Hotelier aus der Unfallstatistik vor und plädiert für einen «rationalen Umgang mit Katastrophen». Die Zahlenspielereien des SP-Mannes sind zynisch gegenüber den Opfern und tragen nichts zu einer vernünftigen Debatte bei. Es geht beim Terror eben nicht um die schiere Zahl der Opfer. Diese ist in der westlichen Hemisphäre klein, da hat Bodenmann schon recht. Aber im Gegensatz zu Unfällen sind terroristische Anschläge keine Unwägbarkeiten des Schicksals, sondern gezielte Angriffe auf unsere Lebensart. Ihr Gift frisst sich in den politischen Diskurs.
Wie gehen wir als Gesellschaft und Nation also mit dem Terror um? Welche Möglichkeiten bieten sich uns kulturell und politisch? Was bedeutet dies alles für die Schweiz? Das sind die Fragen, die man gerade im Vorfeld des Nationalfeiertages erörtern muss.
Vorab: Die Antwort kann nicht in der politischen Isolation liegen. Der Zürcher SVP-Parlamentarier und Verleger Roger Köppel hat unlängst darauf hingewiesen, die beste Versicherung gegen Anschläge sei es, sich konsequent aus Angelegenheiten in anderen Ländern herauszuhalten, sich nicht in fremde Händel einzumischen. Die Schweiz, so die Forderung, solle im Grunde auch gegenüber der Terrororganisation IS neutral sein, dann würden auch die Schweizer schon unbeschadet über die Runden kommen. Das ist hilfloses Gerede. Denn erstens sind Schweizer wie erwähnt ja bereits Opfer des Terrors. Zweitens bezieht sich Neutralität definitionsgemäss auf das Verhältnis zwischen Staaten – der IS ist aber keiner. Drittens stellt sich auf widerliche Weise ausserhalb die westliche Zivilisation, wer sich politisch vor den islamistischen Schergen wegduckt. Und viertens ist politische Feigheit auch deshalb kein Rezept, weil es den Terroristen nicht um völkerrechtliche Fragestellungen geht. Sie hassen uns, weil wir so sind, wie wir sind. So einfach ist das.
Beruhigend ist: Unser Land befindet sich noch in einer ungleich besseren Position als manch anderes europäisches. Es gibt hier keine Stadtteile wie in Brüssel, in denen das Gewaltmonopol des Staates nur noch auf dem Papier besteht. Die Arbeitslosigkeit auch unter moslemischen Migranten ist vergleichsweise niedrig, die Schulen haben die Lage im Griff und leisten wertvolle Integrationsarbeit. Auf diese Leistungen darf man stolz sein. Hinzu kommt ein historischer Startvorteil: Die Schweiz hatte keine Kolonien. Die Migration aus dem arabischen Raum war deshalb vergleichsweise gering, moslemische Einwanderung aus dem Balkan puncto Islamismus in aller Regel unproblematisch. Die überwiegende Mehrzahl dieser Personen ist in unserer Gesellschaft angekommen. Denn ja: Diese Spielart des Terrors hat sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun. Das macht noch längst nicht jeden Moslem zum potenziellen Terroristen, tatsächlich sind gewaltbereite Extremisten eine verschwindend kleine Minderheit. Aber man darf diesen Faktor nicht unterschlagen. Es gab unter den bisher bekannten islamistischen Terroristen hoch Gebildete wie faktische Analphabeten; es gab Reiche wie Arme; es gab Personen aus zerrütteten Familien wie solche aus intakten; es gab notorische Kleinkriminelle wie solche, die aus gewissermassen geordneten Verhältnissen stammten, Konvertiten und aus traditionell moslemischen Familien Stammende. Es gab psychisch Angeschlagene und vorgeblich Gesunde. Es gab und gibt alles. Vor allem gibt es kein klares soziodemographisches Profil – ausser eben den moslemischen Glauben als Klammer.
Das ist ein Fakt. Wer ihn schönredet, spielt letztlich jenen in die Hände, die von einer amtlich unterschlagenen schleichenden Islamisierung phantasieren. Andererseits muss auch klar sein: Einen monokausalen Nexus zwischen Religion und Ausübung von Gewalt, wie er von gewissen politischen Scharfmachern und auch von Hasspredigern herbeigeredet wird, gibt es, wenn überhaupt, nur in den wenigsten Fällen.
Die Schweiz, die wir am 1. August feiern werden, ist ein zwar christlich geprägter, aber multireligiöser Staat, der konfessionelle Gräben in einem zuweilen schmerzhaften Prozess überwunden und nahezu eingeebnet hat. Notwendig hierfür war die Erkenntnis, dass Religion und Staat zwei unterschiedliche Sphären sind, dass religiöse Gesetze niemals über staatliche zu stellen sind und umgekehrt der Staat die Religions- und Kultusfreiheit gewährleistet. Das Minarettverbot, das Tessiner und vielleicht auch bald ein eidgenössisches Burka-Verbot sind in diesem Zusammenhang als Rückschritte zu sehen, auf die man nicht stolz sein sollte. Gewiss, derartige Volksbegehren können dazu dienen, dass sich die Bevölkerung auf einigermassen zivilisierte Art und Weise Luft verschaffen kann. Doch ist die Verfassung der falsche Ort, um Dampf abzulassen.
Ohnehin liegt falsch, wer glaubt, mit politischen Sticheleien auf dem Buckel der Moslems in unserem Land etwas Positives bewirken zu können. Willkürliche Ungleichbehandlung war noch immer ein probates Mittel, um Extremisten Gehör und Einfluss zu verschaffen. Gewiss, es muss unmissverständlich klar sein, dass es rote Linien gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Kleidervorschriften gehören nicht dazu, wohl aber ein minimaler sozialer und gesellschaftlicher Normenkanon. Man gibt in diesem Land auch Frauen die Hand. Man besucht den Schwimmunterricht, wenn die Stundentafel der Schule das vorsieht. So macht man das bei uns. Und darüber muss nicht diskutiert werden. Derartige Dinge sind rückhaltlos durchzusetzen, Hassprediger gehören in ihre Schranken gewiesen, der Entstehung von Subkulturen à la Winterthur ist mit allen rechtsstaatlichen Mitteln ein Riegel zu schieben.
Man muss nicht in der Schweiz leben, wenn man sich den hiesigen Gebräuchen nicht anschliessen will. Man kann auch wieder gehen. Oder gar nicht kommen. Dieses Land tut gut daran, eine harte Migrationspolitik zu führen, auch im Asylbereich. Wer aber nach rechtsstaatlichen Kriterien hier ist, der soll sich nicht als Mensch zweiter Klasse fühlen müssen. Es geht nicht um eine moralisch überhöhte Willkommenskultur. Es geht ganz pragmatisch um die Organisation einer Gesellschaft, die zunehmend heterogener wird. Ein Minimalkonsens ist da unabdingbar. Und er muss nötigenfalls mit aller Härte durchgesetzt werden.
Der islamistische Terror zielt auf die Herzen der Menschen. Er will uns entzweien. Er will, dass die Kategorien verschoben werden, die staatlichen Gemeinschaften auseinanderbrechen. Nicht mehr das Verbindende soll zählen, sondern das Trennende. Wir – und sie, die Moslems. Dabei geht vergessen: Auf einer globalen Skala fallen dem islamistischen Terror weit mehr Moslems zum Opfer als Angehörige anderer Glaubensrichtungen. Abertausende im Herrschaftsgebiet des IS, Hunderte fast wöchentlich in Afghanistan und Irak. Auch in Nizza starben Moslems. Seinen grössten Triumph würde der islamistische Terror dann feiern, wenn er uns dazu brächte, Moslems auszugrenzen. Er schüfe eine Art argumentativen Zirkel, einen Teufelskreis des Hasses. Wenn man sich vor Augen führt, mit welch beleidigenden Parolen zumindest eine Partei in diesem Land zuweilen Stimmung gegen Angehörige dieser Glaubensrichtung macht, so sind wir nicht weit davon entfernt, in diese Falle zu tappen.
Am Montag feiern wir den 1. August. In seiner eindringlichen Beschreibung des Rütlischwurs lässt Friedrich Schiller die ersten Eidgenossen zuerst streiten, bevor sie schwören, ein «einzig» Volk von Brüdern zu sein. Das Wort «einzig» ist entscheidend. Es sagt uns nicht, dass Einigkeit herrschen soll. Dissens und Streit sind erlaubt, und es hat sie in der Eidgenossenschaft weiss Gott auch zur Genüge gegeben. Ein auch heftiger Wettstreit der Ideen ist für eine Gemeinschaft kein Problem. Im Gegenteil, er ist das Schmiermittel für jede Entwicklung. Gefährlich wird es freilich dann, wenn Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt, stigmatisiert werden. Das sagt uns das Schillersche Wort «einzig». Alle Bundesgenossen sollen gleichwertig sein – bessere oder mindere Eidgenossen gibt es nicht.
Es ist an der Zeit, diesen Rütlischwur ernst zu nehmen. Das heisst erstens: Es darf in unserem Land keine Ausgrenzungen geben, denn wir sind gleichwertig – unbesehen von Religion, Geschlecht, Sprache, sexueller Orientierung oder politischer Überzeugung. Zweitens: Wir beugen uns keiner Macht und Gefahr – nicht der Angst und schon gar nicht dem Terror. Wir halten trotzig an unseren Prinzipien fest, wir bleiben eine liberale, offene Gesellschaft. Und drittens: In der Gefahr lassen wir uns nicht auseinanderdividieren – von keiner Partei – sondern stehen uns bei und kämpfen für unsere Freiheit.
Womöglich wäre es klug, all dies in diesen Tagen mit dem Refrain des Schweizerpsalms anzureichern. «Betet, freie Schweizer, betet!» Zu welchem Gott auch immer.
pascal.hollenstein@tagblatt.ch