Zwar ist es ein Vierteljahrhundert her, seit eine geschockte Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen musste, wie ein entfesselter Staatsschutz auch über unbescholtene Bürger Informationen sammelte. Gleichwohl hat dieser Schock bis heute Auswirkungen auf die Gesetzgebung.
Ende September stimmen wir über das Referendum gegen das neue Nachrichtendienstgesetz ab. Weshalb überhaupt ein Referendum gegen ein Gesetz, das doch eigentlich dazu gedacht ist, etwa die Terrorabwehr zu verbessern? Der Blick zurück ins letzte Jahrhundert erklärt, warum viele Bürgerinnen und Bürger nach wie vor Vorbehalte haben, wenn es darum geht, den Staatsschutz zu stärken: Im letzten Jahrhundert nämlich sammelten entfesselte Schweizer Staatsschützer Informationen über «Subversive».
«Subversiv», also umstürzlerisch, waren in den Augen dieser Staatsschützer ausländische Anarchisten, Schweizer Sozialisten und Gewerkschafter – und in den Zeiten des Kalten Krieges überhaupt alle Linken, Alternativen, Grünen, Friedensbewegten, Atomkraft-Gegner, Frauenrechtlerinnen, Dritt-Welt-Aktivisten. Aber auch Schriftsteller und Künstler waren den Staatsschützern suspekt.
Kein Wunder, dass bei einer so breiten Definition der Bedrohung durch «Subversion» schliesslich insgesamt rund 900 000 Personen und Organisationen ihre Registrierkarte (Fiche) und ihr Dossier hatten beim Staatsschutz. Kein Wunder aber auch, dass das Vertrauen vieler Bürger in den Staat ins Wanken geriet, als die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) zur Untersuchung des Falls Kopp (benannt nach der früheren Bundesrätin Elisabeth Kopp) am 22. November 1989 ihren Bericht über die Aktivitäten des Staatsschutzes veröffentlichte. Er zeigte nicht zuletzt auf, wie diese oft gar mit Fehlern gespickten Fichen und Dossiers das Schicksal selbst unbescholtener Bürger negativ beeinflusst hatten.
So verwundert es denn nicht, dass eine Demonstration gegen diese Fichierung in Bern die seither nie mehr erreichte Zahl von 35 000 Personen mobilisierte, Intellektuelle die 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft boykottierten, weit über 300 000 Personen ein Gesuch einreichten, um die Herausgabe ihrer Fiche zu erreichen, die Volksinitiative «S.o.S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei» 1990 lanciert und 1991 eingereicht wurde. Sie forderte die Abschaffung der politischen Polizei.
Ob nun der Anschlag auf die Twin Towers vor anderthalb Jahrzehnten in New York oder die Anschläge durch islamistische Terroristen in der Gegenwart, wenn deswegen über mehr Kompetenzen des Staatsschutzes diskutiert wird, wirkt die sogenannte Fichen-Affäre stets nach – bis heute.
Zwar lehnte das Schweizervolk die S.o.S.-Initiative 1998 mit 75,4 Prozent Nein-Stimmen massiv ab, aber das Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS), 1998 in Kraft gesetzt, zeigt deutliche Spuren der Fichen-Affäre: Dem präventiven Staatsschutz war lediglich das Sammeln von Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen sowie die Ansprache von Behörden und Personen erlaubt. Dem heimlichen Ausforschen sensibler Personendaten zu präventiven Zwecken wurde ein Riegel geschoben. Es blieb dem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren vorbehalten.
Bundesrat Arnold Koller erklärte damals in seiner Eigenschaft als Justizminister, weshalb der Bundesrat der Meinung war, nicht weitergehen zu wollen bei dem, was dem Staatsschutz erlaubt war. Die Telefonüberwachung sowie das Plazieren von Wanzen seien gravierende Eingriffe in die Privatsphäre, so Koller, und sie beträfen naturgemäss nicht nur die auszuspähende Person, sondern auch Unbeteiligte, die mit dieser Person Kontakt aufnähmen. Solche Massnahmen seien deshalb erst nach Eröffnung eines Verfahrens mit rechtsstaatlichen Garantien – eines Strafverfahrens eben – zu erlauben.
In der Folge des 11. September 2001 (Anschlag auf die Twin Towers) wurden immer wieder Forderungen nach zusätzlichen gesetzlichen Vollmachten für den Staatsschutz laut. Doch erst im Jahr 2007 legte der Bundesrat eine Botschaft zur Änderung des BWIS vor. Er orientierte sich an anderen EU-Ländern und forderte für die Schweiz dieselben Möglichkeiten der Überwachung.
Nicht nur der SP und den Grünen, sondern auch der SVP ging das zu weit. So wies das Parlament die Botschaft im Frühjahr 2009 zur Nachbesserung an den Bundesrat zurück. Unter anderem sollte er die Verfassungsmässigkeit der Vorlage detailliert überprüfen, «dies insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV), der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV), der Medienfreiheit (Art. 17 BV), der Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) und der Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV)».
Der Bundesrat präsentierte dem Parlament darauf eine «Zusatzbotschaft» mit einer eingeschränkten Zahl von Änderungsanträgen beim BWIS – Änderungen «mit einer hohen politischen Akzeptanz», wie er schreibt. Alles andere sparte er sich «für die Gesamtkodifikation für die zivilen Nachrichtendienste» auf – eben für das Nachrichtendienstgesetz, über das wir Ende September zu befinden haben.
Auch wenn im Vergleich zur zuvor geplanten Revision insgesamt einen gemässigten Geist atmend, nimmt das Gesetz dabei wieder auf, was der Bundesrat zu Zeiten Arnold Kollers explizit nicht wollte: Der Nachrichtendienst soll künftig auch den Post- und Fernmeldeverkehr präventiv überwachen dürfen, private Räume verwanzen oder in Computer eindringen können. Dies alles im Kampf gegen den Terrorismus, verbotenen Nachrichtendienst und Proliferation sowie bei drohenden Angriffen auf kritische Infrastrukturen.
Obwohl Sicherungen eingebaut sind, damit der Nachrichtendienst beim Überwachen von Personen und Organisationen nicht wieder aus dem Ruder läuft, es sind vor allem diese in anderen Ländern längst realisierten neuen Möglichkeiten für den Nachrichtendienst, die Unbehagen auslösen und zum Referendum gegen das Gesetz führten.
Das Referendum dürfte es beim Urnengang Ende September schwer haben, denn wir leben in einer Zeit islamisch motivierter Anschläge, was in den Augen vieler besondere Vorkehren nötig macht. Aber nur schon, dass es ergriffen wurde, zeigt: Die Fichenaffäre wirkt bis heute nach.