Heute gilt es als fröhliche «Olympiade der Folklore». Erfunden wurde das legendäre Unspunnen jedoch 1805 zur Befriedung des bedrohlichen Stadt-Land-Grabens in Bern. Ende August wird wieder gefeiert.
Hansruedi Kugler
Politik ist heutzutage am Unspunnenfest genauso verpönt wie an Schwinger- und Jodlerfesten. Sonst kriegt man womöglich eine Wasserdusche. Beispiel: Adolf Ogi warb in seiner Festansprache 1993 für den Beitritt zum Zoll- und Freihandelsabkommen Gatt und sprach sich für die Erhöhung der Mehrwertsteuer aus. Prompt kriegte er während des Festumzugs einen nassen Guss aus einer Spritze seiner Gegner unter den Umzüglern. Ganz anders das Grusswort von Bundespräsidentin Doris Leuthard zum diesjährigen offiziellen Unspunnenbuch. Sie beschränkt sich auf eine allgemeine Werte-Aussage: Dieses Fest sei nicht «aus der Zeit gefallen», sondern zeige: «Traditionen lassen sich mit der Zukunft bestens verbinden.» Steinstösser und Alphornbläser würden jene Werte verbinden, «welche die Schweiz stark gemacht haben», nämlich Eigenständigkeit gepaart mit Offenheit. Man müsste Doris Leuthard ergänzend korrigieren: die wahre Verkörperung von Swissness ist wohl viel eher Roger Federer – leistungsorientiert und erfolgreich auf einem globalen Markt, dabei freundlich, bescheiden und heimatverbunden geblieben.
Zeitweise ging es patriotisch zu und her. Philipp Etter verglich in seiner Festrede 1946 das Unspunnen mit einer «Generalmobilmachung des schweizerischen Geistes». Und sah in der Trachtenvielfalt ein Sinnbild für den Föderalismus: «Gott sei Dank, wir kennen keine schweizerische Einheitstracht!» Etters Patriotismus, Doris Leuthards Sonntagsrede und der Unmut über Ogis Abstimmungsslogan spiegeln den Ursprung des Unspunnenfestes. Der Grat zwischen Befriedung und Bevormundung war schon damals schmal. 1805 sollte bei der Burg Unspunnen in Interlaken symbolisch die Versöhnung zwischen Stadt und Land gefeiert werden, denn im Oberland drohten Unruhen auszubrechen. Dortige Patrioten wollten sich nicht wieder unter das Joch der Stadtberner Zünfter beugen.
Denn nach einer kurzen Phase der Eigenständigkeit während der von Napoleon veranlassten Helvetik zwischen 1798 und 1803 wurden die Oberländer faktisch wieder Untertanen der Stadt Bern und deren Aristokratie. Die kurze Zeit der Handels- und Gewerbefreiheit, Niederlassungs- und Pressefreiheit hatte ein Ende. Auf Initiative von Stadtberner Patriziern sollte ein neues Volksfest «Trachten- und Alphirtenfest Unspunnen» Einigkeit erreichen. Die Unruhen und Aufstände in vielen Regionen der Eidgenossenschaft, von Schaffhausen über Zürich und Basel bis ins Wallis, waren noch in ängstlicher Erinnerung.
Martin Sebastian, der Autor des neuen, umfangreichen und mit gegen tausend Fotos bebilderten Unspunnenbuches, spricht denn auch vom «Geist von Unspunnen» oder gar deren Seele. Darunter versteht er die Vielfalt der Volkskultur und das friedliche Miteinander von Schwingern, Jodler, Trachtenleuten. «Die Folklore ist aber eigentlich ein Nebenprodukt der ursprünglichen, politischen Mission», sagt Sebastian. Und wenn man die weitere Geschichte des Unspunnen verfolgt, muss man sagen: «Stadt und Land haben sich nicht versöhnt.» Die Anführer der Oberländer Patrioten wurden noch stärker überwacht als zuvor. Rund 600 Spione seien im ganzen Kanton eingesetzt worden, schreibt Sebastian. Nach dem zweiten Unspunnenfest 1808 war die kurze Tradition auch schon zu Ende. Es dauerte fast hundert Jahre bis zum nächsten: 1905 diente das Fest vor allem der Ankurbelung des Tourismus. Die politische Versöhnung war kein Thema mehr. Rund 22000 Besucher kamen 1905 nach Interlaken. Die touristische Wirkung ist unbestritten: Bereits 1805 waren nach einer intensiven Werbekampagne viele Städter, sogar solche aus Paris ins Berner Oberland gefahren.
Hingegen verdankt das Brauchtum dem Unspunnen wichtige Impulse: «Man vergisst leicht, dass vieles an heute selbstverständlichem Brauchtum ohne das Unspunnenfest vielleicht verschwunden wäre», sagt Sebastian. So erklärten die Initianten des ersten Unspunnen das Alphorn zum Symbol urschweizerischer Wesensart. Allerdings scheint um 1800 kaum jemand Alphorn gespielt zu haben – lediglich zwei meldeten sich zum Unspunnen an. Die wenige Alphörner waren damals zudem viel kürzer und wurden nicht auf die Erde gestellt.
Ähnliches kann man über die Trachtenkultur und das Steinstossen sagen, das die Stadtberner für den typischen Zeitvertreib der Alphirten hielten. Es waren zum Erstaunen der Berner die angereisten Appenzeller, die einen 92 Kilo schweren abgerundeten Stein mitbrachten und so die Gestalt des Unspunnensteins prägten. Bis heute bedauern die nachfolgenden Generationen gelegentlich diese Form und würden sich gerne einen Steinbrocken mit Kanten wünschen – für bessere Griffigkeit.
Später wurde der legendäre Stein zum politischen Protestsymbol. Am 3. Juni 1984 stahlen ihn jurassische Separatisten aus dem Touristikmuseum in Unterseen bei Interlaken und versteckten ihn als «Geisel, bis der Jura total befreit sei», schrieben sie im Bekennerbrief. Im Mai 1985 beschaffte sich der Turnverein Interlaken einen Stein in gleicher Grösse und aus dem gleichen Granit als Duplikat. Zwischen den Festen liegt er gut gesichert bei der UBS in Interlaken. Der Originalstein kam erst wieder im August 2001 zum Vorschein. Allerdings hatten die Separatisten diesen mit ihrem Emblem und zwölf Europasternen «verziert». Mit ihm kann nicht mehr gestossen werden, da er durch die Bearbeitung an Gewicht verloren hat.
Auch wenn das Fest von aussen betrachtet den Eindruck erstarrten Brauchtums abgibt: Martin Sebastian betont, dass das Unspunnen der Folklore immer auch neue Impulse gegeben habe. Für die diesjährige Ausgabe zum Beispiel hat sich das Fest eine poppige Ballade als Hymne geschenkt – komponiert vom Berner Popsänger Marc A. Trauffer.