Kritik Bei ihnen purzeln die Buchstaben durcheinander: 5 bis 10 Prozent der Menschen in der Schweiz haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Ein Kind pro Klassenzimmer sei in der Regel betroffen, heisst es. Beides Schätzungen. «Der Deutschweizer Verband der Logopädinnen- und Logopäden fordert seit Jahren eine bundesweite Erhebung. Bisher vergeblich», sagt Vorstandsmitglied Bérénice Wisard. Die Logopädin meidet den Begriff Legasthenie. «Das Wort gebrauchte man früher, als die Störung noch als Krankheit galt», sagt sie. Die Versorgung von Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche sei kantonal geregelt, die Kantone müssen aufkommen für logopädische Massnahmen von Betroffenen bis zwanzig Jahre. «Je mehr der Lehrer mit Lesen und Schreiben unterrichtet, umso schwieriger ist es für die Betroffenen mitzuhalten», sagt Wisard.
«Würde man Dyslektiker früher erkennen, könnte man die Schulversagerquote stark senken», ist Robin Hull, Vizepräsident des Verbandes Dyslexie Schweiz, überzeugt. «Doch Logopäden und Heilpädagogen sind mit zu viel Arbeit eingedeckt.» Der Fall von Nobelpreisträger Jacques Dubochet sei nur ein Beispiel dafür, was trotz Lese-Rechtschreib-Schwäche möglich wäre. Hull spricht von einer «verhinderten Elite». Betroffene hätten ein «einklagbares Recht auf Nachteilsausgleich, sofern sie vom schulpsychologischen Dienst abgeklärt sind und dieser einen Nachteilsausgleich empfohlen hat». Wie dieser aussehe, werde bestenfalls von Situation zu Situation entschieden: mehr Zeit zum Lesen an Prüfungen, den Computer nutzen für Aufsätze, mündliche statt schriftliche Tests. «Nur wird das in der Praxis zu wenig umgesetzt. Wer lernbehindert ist, gehört nicht an ein Gymnasium: Diese Einstellung ist noch immer verbreitet.» Sogar Eltern würden Dyslexie mit mangelnder Intelligenz verwechseln. «Die Kinder halten sich in der Folge selber für dumm. Sie verlieren ihr Selbstvertrauen.»
Laut Silvia Brem, Neurowissenschafterin mit Schwerpunkt Dyslexie an der Universität Zürich, punkten besonders die USA und England mit Förderkonzepten. «Auch, weil Dyslexie in diesen Ländern nicht umstritten ist. Bei uns heisst es oft: Das kommt schon noch. Immer wieder wartet man zu lange zu.» Einige Experten kritisieren das Schweizer Modell, bei dem Lesen und Schreiben zu Beginn nach Gehör erfolgt und Orthografie erst später wichtig wird. Brem: «Mädchen und Buben getrauen sich so zwar schneller zu schreiben. Legastheniker jedoch haben grosse Mühe, dann umzulernen. Sie brauchen von Anfang an konkrete Rechtschreiberegeln.»
Diana Hagmann-Bula