Einem Bürokollegen verpassen Erwachsene keine Ohrfeige, wenn er sie wütend macht. Einem Kind schon, wie eine neue Studie zeigt. 48 Länder kennen ein gesetzliches Prügelverbot. Die Schweiz gehört nicht dazu.
Die Schweiz ist ein friedliches Land. Eines der friedlichsten sogar. Es belegt Rang neun im globalen Friedensindex des «Institute for Economics and Peace». Doch im Kinderzimmer ist schnell Schluss mit der Versöhnlichkeit. Jedes fünfte Kind erlebt massive Gewalt, wird mit einem Gegenstand oder der Faust geschlagen, getreten oder geprügelt. 40 Prozent der Mädchen und Buben sind von leichter Gewalt betroffen, erhalten eine Ohrfeige verpasst, werden hart angepackt oder gestossen. So lautet das schockierende Ergebnis einer neuen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Heute, wo viele hippe Eltern auf Erziehung durch Nähe schwören, das Kind lange stillen, es im Tragtuch transportieren, es im Elternbett nächtigen lassen, wo zig Ratgeber Erfolgsrezepte zur Erziehung versprechen, müssten Schläge und Ohrfeigen doch der Vergangenheit angehören. Ein Irrglaube. «Das Bewusstsein dafür, dass Gewalt an Kindern falsch ist, ist in der Schweiz noch immer zu wenig verbreitet», sagt Studienautor Dirk Bauer. Erziehung bleibe eine anspruchsvolle Aufgabe. «Es gibt keinen einfachen, konfliktfreien Weg.»
Manchmal endet der Weg besonders tragisch. Eine geschwollene Hand, Blutergüsse am ganzen Körper unter der zarten, blassen Haut. So liefert eine junge Mutter ihr 18 Monate altes Mädchen im Kinderspital St.Gallen ein. In solchen Momenten werden Ärzte auch zu «Anwälten». Ihr Klient: das Kind. Decken sich die Schilderungen von Mutter und Vater? Ist wirklich ein Sturz Ursache für die Verletzungen? Oder haben die Eltern das Kind misshandelt? «Es stellte sich heraus, dass der neue Partner der Kindsmutter das Mädchen verprügelt hatte», sagt Tamara Guidi Margaris, stellvertretende Chefärztin der Pädiatrie am Kinderspital St.Gallen und Leiterin der Kinderschutzgruppe. Sie schildert den Fall detailliert, gefasst. Betrübt ein solches Erlebnis sie nicht? «Gewalt an Kindern macht auch uns Ärzte betroffen. Wir müssen Gefühle aber zurücknehmen. Es geht nicht um uns, sondern um das Kind und die Familie. Wie können wir sie unterstützen?».
Guidi betont, dass die Anzahl Fälle gesamtschweizerisch in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Das habe einerseits damit zu tun, dass die Gesellschaft sensibilisierter sei für das Thema, anderseits habe sich die Erfassung verbessert. «Doch auch die Belastung der Eltern hat zugenommen.» In Deutschland klagt die Hälfte der Erziehenden gemäss einer Krankenkassen-Studie über starken Zeitstress. Ärztin Guidi meint: «Ob Stress, tiefes Einkommen, Krankheit oder Schwierigkeiten bei der Integration nach der Einwanderung: Alles, was eine Familie an die Grenze bringt, erhöht das Risiko für Gewalt.» Viele Eltern wüssten, dass «ein Klaps aufs Füdli» nicht gut sei für das Kind. «Aber es gibt Situationen, da können sie nicht anders. Und reden sich dann ein: Es ist ja keine schwere Gewalttat.»
Wiederholte Traumatisierung durch Schläge oder andere Misshandlungen verändert das Gehirn, beeinträchtigt die emotionale und psychische Entwicklung. «Verschiedene gesundheitliche Probleme sind möglich», sagt Guidi. Xenia Schlegel von der nationalen Fachstelle Kinderschutz Schweiz betont die Gefühlsseite: «Gewalt erschüttert das Vertrauen in die Bezugsperson.» Ob ein Kind weint, aggressiv reagiert oder sich zurückzieht, hängt von seiner Persönlichkeit ab. Welche langfristigen Folgen Gewalt hat, kommt auf Art und Ausmass an, wie belastungsfähig ein Mädchen oder ein Bub ist, welche Unterstützung sie erhalten. «Später wird das Kind eventuell Schwierigkeiten haben, tiefe, dauerhafte Beziehungen einzugehen. Ein allgemeines Muster gibt es aber nicht.»
Eine statistische Tendenz hebt Schlegel dennoch hervor: «In sozioökonomisch benachteiligten Familien kommt Gewalt häufiger vor.» Eine prekäre Wohn-, Arbeits- oder Finanzsituation führe zu Perspektivlosigkeit. «Ausländer gehören besonders oft zu dieser verletzlichen Gruppe.» Die ZHAW kommt zum ähnlichen Schluss: Die meisten mit Schlägen erziehenden Eltern stammen aus den Balkanländern Kosovo, Serbien und Mazedonien; sie machen 40 Prozent aus.
Eltern, die behaupten, nie entnervt zu sein, wenn die (geliebten) Quengelgeister endlich schlafen, sind keine Super-Erzieher. Sie sind unehrlich. Oder haben eine Nanny angestellt, zu hundert Prozent. Die anderen hinterfragen sich, tauschen sich darüber aus, wie sie Trotzanfälle im Supermarkt verhindern, wie sie reagieren, wenn dem Buben in der morgendlichen Eile auch der vierte Pulli nicht genehm ist. «Eltern, die überzeugt sind, gewaltfrei erziehen zu können, werden eher in der Lage sein, das auch in Konfliktsituationen umzusetzen», sagt Schlegel. Die Werkzeuge dafür kann man sich etwa in Elternkursen aneignen. Schaukelt sich der Zwist dennoch hoch, empfiehlt Schlegel einen «Notfallplan». Aus dem Zimmer gehen, Kissen kneten, rückwärts von 20 auf 0 zählen, Wasserrauschen ab CD hören: Alles ist erlaubt, was das elterliche Gemüt abkühlt.
Zuzuschlagen, wenn mit den Kleinen nicht alles läuft, wie man sich das vorstellt: In vielen Ländern ist das gesetzlich verboten. Schweden war das erste Land, das 1979 einen solchen Erlass verankert hat. Wer Milch ausschenkte, las fortan auf der Verpackung: Man soll seine Kinder nicht schlagen. 47 Länder sind dem Beispiel gefolgt, auch Rumänien und Polen. Frankreich, Spanien und Italien verharren wie die Schweiz in Untätigkeit. Studienautor Dirk Baier würde sich freuen, wenn Unternehmen wie Coop oder Migros bei Familien beliebte Produkte mit einem ähnlichen Hinweis versähen. «Realistischer ist aber, dass Flyer hergestellt werden, die an Elternabenden in Kindergärten und Schulen verteilt werden. Sie müssten vermitteln: 1. Eltern haben kein Recht, ihrem Kind Gewalt anzutun. 2. Auch Ohrfeigen sind Gewalt. 3. Wer sein Kind schlägt, riskiert, dass es unglücklich ist und anderen weh tut.» Aus Studien weiss man, dass sich rund ein Drittel der Gewalt wiederholt. Baier sowie Schlegel fordern ein gesetzliches Verbot von Körperstrafen: «Erfahrungen in anderen Ländern haben gezeigt, dass es viel bewirkt.» Deutschland etwa hat die Prügelstrafe 2000 gesetzlich verboten. Nur 13 Prozent der Kinder erleiden heute dort noch schwere Gewalt. Trotz solcher Vergleiche: Entsprechende Vorstösse im Schweizer Parlament scheitern immer wieder, zuletzt (und erst vor einigen Wochen) jener von SP-Nationalrätin Chantal Galladé. «Solange Züchtigung von Kindern nicht verboten ist, ist sie gesellschaftlich akzeptiert», sagt sie. Erwachsene würden einem Bürokollegen auch keine Ohrfeige verpassen, wenn er sie nerve. «Es geht also ohne Gewalt. Warum nicht gegenüber Kindern?»
Gegner konterten, der Staat müsse sich nicht auch noch in die Erziehung einmischen. Galladé wolle Eltern kriminalisieren. Die Winterthurerin wird einen neuen Anlauf starten: «Ich muss geschickter aufzeigen, dass es mir nicht darum geht, Eltern vor den Richter zu zerren, sondern um gewaltfreie Erziehung. Bei Verkehrstoten streben wir eine Nullquote an. Warum nicht in diesem Bereich?».
Dann würde es keine Fälle mehr geben wie jener des 18 Monate alten Mädchens. Eingeliefert von der Mutter, die von den Schlägen wusste. «Sie war nicht stark genug, um sich gegen ihren Partner zu wehren. Sie benötigte unsere Hilfe», sagt Tamara Guidi Margaris, Leiterin der Kinderschutzgruppe. Mit den Eltern reden, betonen, wie schädlich Schläge für Kinder sind, Lösungen für Unterstützung suchen. Manchmal genügt das alles nicht, und die Kinderschutzgruppe muss die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde einschalten. Oder Strafanzeige bei der Polizei einreichen, wegen schwerer Körpermisshandlung. Denn kaum benötigen die verprügelten Kinder keine medizinische Hilfe mehr, werden sie wieder entlassen. Von der sicheren Krankenstation in die Welt. Mit der Hoffnung, dass die getroffenen Massnahmen sie vor weiteren Übergriffen schützen.