SAMMELPLATZ: «Sie vermisst mich nur aus Eitelkeit»

Im Nextex eröffnen sich vielseitige Einsichten zum Thema Sammeln. Es geht um eine Postkartensammlung, sittlich gefährdete Mädchen und leidenschaftliche Modelleisenbähnler. Auch ein exklusives Sammlungsstück wurde produziert.

Christina Genova
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Bodeninstallation mit 28 der 37 Bücher, die Tine Melzer für die Ausstellung herstellte. (Bild: Benjamin Manser)

Bodeninstallation mit 28 der 37 Bücher, die Tine Melzer für die Ausstellung herstellte. (Bild: Benjamin Manser)

Christina Genova

Ein Stapel Teller, Besteck und Gläser für dreizehn Personen liegen auf einem schmalen Tisch bereit. Auch ein Tischtuch darf nicht fehlen und Mazzot, jenes ungesäuerte Brot, das auch Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl assen. Hans Guggenheim hat sich für seine Installation von der über hundertteiligen Postkartensammlung von Ueli Vogt mit Darstellungen des letzten Abendmahls inspirieren lassen. Vogt kuratierte zusammen mit Anna Beck-Wörner die Ausstellung «Sammelplatz» im Nextex, in welcher die Arbeit des 79-jährigen Künstlers zu sehen ist. Die Schau widmet sich verschiedenen Aspekten des Sammelns.

Triebhaftigkeit und Nachtschwärmerei

Dass Hans Guggenheim Mazzot bereit gelegt hat, ist ein subtiler Hinweis des Künstlers auf die Wurzeln von Ostern im jüdischen Pessachfest. In der Pessach­woche, wird nur ungesäuertes Brot gegessen. «Pessach» heisst wörtlich «vorüberschreiten». «Passover/Übergang» lautet deshalb auch der Titel der Arbeit: «Ein Tisch und ein Mahl sind immer eine Sache des Übergangs», sagt Hans Guggenheim. Werden sich hier bald Menschen zum gemeinsamen Essen zusammensetzen, oder ist es schon vorbei? Beides wäre möglich. Offen bleibt auch, ob sich die Besucher setzen und vom Mazzot kosten dürfen.

Fast sechzig Jahre jünger als Hans Guggenheim ist Maj Lisa Dörig. Die jüngste der Ausstellenden hat sich ebenfalls mit einer Sammlung auseinandergesetzt. Die junge Frau stöberte im Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte und stiess dabei auf die Geschichte des St. Galler Mädchenheims Wienerberg. Von 1890 bis 1974 wurden dort sittlich gefährdete oder sogenannt «gefallene» Mädchen im Alter der Künstlerin eingewiesen, die gegen die damals geltenden Moral- und Verhaltensvorstellungen verstiessen. Einige der «Vergehen», auf welche sie in den Akten stiess, hat Maj Lisa Dörig an die Wand geschrieben: Nachtschwärmerei, keine Freude am Haushalt oder Triebhaftigkeit. Während der Dauer der Ausstellung hat die angehende Illustrationsstudentin ihr Atelier im Nextex eingerichtet und arbeitet an einer grafischen Umsetzung des Archivmaterials. Darin fliessen sowohl ihre persönlichen Auseinandersetzungen mit den Schicksalen der Mädchen als auch die Reaktionen der Besucher ein: «Interaktivität ist mir wichtig. Es soll keine abgeschlossene Arbeit sein», sagt die 20-Jährige. Die zahlreichen Hinweise auf Bücher und Filme, die bereits eingingen – von Chimamanda Ngozi Adichie bis Susan Sontag – hat sie auf einer Liste notiert.

Sammeln über Generationen

Gleich selbst ein Sammlungsstück produziert hat die Künstlerin und Sprachphilosophin Tine Melzer. «Bausatz» lautet der Titel des Buches, das speziell für die Ausstellung in einer limitierten Auflage von 37 Stück erschienen ist. 28 davon hat Melzer als Bodeninstallation ausgelegt. Im Buch lesen wir die losen Gedanken von Hans, der am Küchentisch Modellbausätze zusammenbaut. Auf jeder Doppelseite ist das Foto des Bauteils eines Flugzeugs einem Satz gegenübergestellt. Absurdes mischt sich mit Philosophischem: «Sie vermisst mich nur aus Eitelkeit» oder «Welche Tätigkeit ist die Zeit wert, die sie verbraucht?». Im Kern geht es um Beziehungen. Nicht nur müssen sich die einzelnen Bauteile passgenau ineinanderfügen; auch die Sätze sind Teil eines Gefüges und erzählen davon, wie Hans zu den Menschen und den Dingen steht.

Die Modelleisenbahn von Hans und Michael Bösch ergänzt die sehenswerte Schau. Vater und Sohn Bösch teilen die Freude am Sammeln und Bauen. Und mit den Grosskindern Juri und Alma besteht die Hoffnung, dass sich die Leidenschaft auch an die nächste Generation vererbt.

Bis 14.9., Nextex, Frongartenstrasse 9, St. Gallen; Do 19–22 Uhr, Fr 11–15 Uhr