Wertvolle Handschriften aus dem Mittelalter wurden zerschnitten oder als Einband verwendet. Solche Fragmente sind heute weltweit verstreut und sollen dank Big Data zusammengeführt werden.
Bruno Knellwolf
Das Mittelalter hat ein schlechtes Image. Aus dem Kino kennt man diese düsteren Bilder voller Dreck, Blut und Gewalt, von Menschen, die nichts anderes wussten, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. «Jetzt haben wir die Chance, das Mittelalter aufzuhellen. Denn dieses war viel farbiger und idealistischer, als wir uns vorstellen», sagt Cornel Dora, Leiter der Stiftsbibliothek St. Gallen. Helfen soll dabei ausgerechnet die digitale Welt, genau gesagt Big Data.
Die wichtigsten Bibliotheken der Welt haben sich zusammengeschlossen, um Rätsel aus dem Mittelalter zu lösen, ein Puzzle zusammenzustellen. Ein Puzzle, dessen Teile aus mittelalterlichen Handschriften stammen, die irgendwann zerschnitten, angebrannt, als Einband für neuere Bücher oder als Notizzettel verwendet worden sind.
Am internationalen Big-Data-Projekt sind neben der Stiftsbibliothek die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Vatikanische Apostolische Bibliothek in Rom, die Bayerische Staatsbibliothek in München, die Bodleian Library in Oxford, die Universitätsbibliothek von Leipzig, die British Library in London oder die Österreichische Nationalbibliothek von Wien, aber auch die amerikanischen Universitäten Harvard, Stanford und Yale beteiligt. Geleitet wird das Projekt von einem Forscherteam an der Universität Freiburg unter Leitung von Professor Christoph Flüeler. Seit Jahren ist er mit seinem Team führend in der digitalen Handschriftenforschung. Auf der Plattform e-codices sammelt und digitalisiert Flüeler die mittelalterlichen Handschriften aus den Klöstern und Bibliotheken der Schweiz.
Nun wird der Kreis international ausgeweitet mit der Plattform «Fragmentarium», die heute in der Stiftsbibliothek St. Gallen eröffnet wird. Auf dieser digitalen Forschungsplattform werden, wie es der Name verspricht, Fragmente aus Pergament gesammelt. «Entstanden sind diese aus Handschriften, die wiederverwertet oder zerschnitten wurden. Um sie als Buchverstärkung zu nutzen oder als Verzierung», sagt Flüeler. Diese Praxis war in der Neuzeit im 15. bis 17. Jahrhundert weitverbreitet.
«In den USA sind Fragmente heute noch ein Markt. In den grossen Auktionshäusern wie Sotheby’s oder Christie’s werden Fragmente für Preise von 400000 Franken verkauft», sagt Flüeler. In den 1950er- und ’60er-Jahren haben findige Händler eine wertvolle Handschrift gekauft, in Teile geschnitten, um so beim Wiederverkauf einen grösseren Erlös zu erzielen. Hunderttausende von Handschriftenfragmenten sind nun über die ganze Welt verstreut. Man findet solche aus dem 12. Jahrhundert selbst in Rio de Janeiro, wo sie aufgrund irgendwelcher Kriegswehen in Europa schliesslich gelandet sind, wie William O. Duba, amerikanischer Fragmentforscher an der Universität Freiburg, erzählt. Auch in der Stiftsbibliothek liegen Fragmente in Schachteln versteckt, hält Dora fest. «Weltweit sind 90 Prozent dieser Fragmente verloren», sagt Flüeler. Diese wieder zu finden oder zu vereinen, zu erforschen wäre ohne Big Data nicht möglich.
Auf der Plattform «Fragmentarium» können die ersten Fragmente bereits betrachtet werden. Zurzeit arbeiten zwölf Forschergruppen rund um den Globus und einige Doktoranden digital vernetzt an besonders aufschlussreichen Fallbeispielen. Duba zeigt am Computer einige der bis jetzt 368 platzierten Fragmente. Er klickt auf ein St. Galler Fragment, das erforscht und auf der neuen Plattform abgelegt worden ist. Es stammt aus einer repräsentativen Psalmenhandschrift aus dem 9./10. Jahrhundert und ist ähnlich dekoriert wie der berühmte Folchart-Psalter. Momentan stammen die meisten Fragmentdokumentation auf «Fragmentarium» von der Universität Leipzig. Zu den Dokumenten gehören neben dem Bild des Pergaments alle dazugehörenden Informationen. So haben Forscher die Möglichkeit, zum Schreibstil, zu den Herkunftsorten, meist Klöster, und deren Schriftkultur zu forschen. In Skandinavien zum Beispiel wurden im Laufe der Reformation praktisch alle Handschriften zerstört. Über das Internet kann nun versucht werden, diese Teile wieder zusammenzufügen.
Ab heute soll die digitale Fragmentsammlung wachsen. «In den nächsten Monaten auf über Tausend», sagt Flüeler. So soll ein Netzwerk der Fragmentforschung entstehen, um eine systematische Erkundung der wertvollen Handschriften zu ermöglichen. «Dank Fragmentarium wird man viele Überraschungen und Sensationen finden», sagt Flüeler.
«Durch die Digitalisierung entstehen neue Lesesäle», sagt der Stiftsbibliothekar. «Mit riesiger Wirkung. Wissenschafter werden Teil einer grossen Community, die ihr Wissen auf der digitalen Plattform mitgeben und mehren können.» Diese Nutzung von Big Data sei wegweisend für die Geisteswissenschaften, erklärt Cornel Dora.
Heute 19 Uhr: Eröffnung der Forschungsplattform «Fragmentarium» an einer Vernissage in der Stiftsbibliothek St. Gallen www.fragmentarium.unifr.ch/