Wir Gerissenen und Gejagten

Die Tänzerin und Choreographin Gisa Frank zeigte neulich in der Kunsthalle Arbon eine Kostprobe ihres Langzeit- projektes «Wildwechsel». Ab 22. Januar ist das Bewegungsstück in der Lokremise zu sehen, später in Steckborn.

Brigitte Schmid-Gugler
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Szene aus dem von Gisa Frank entwickelten Bewegungsstück «Wildwechsel», als Ausschnitt erstmals präsentiert in der Kunsthalle Arbon. (Bild: Coralie Wenger)

Szene aus dem von Gisa Frank entwickelten Bewegungsstück «Wildwechsel», als Ausschnitt erstmals präsentiert in der Kunsthalle Arbon. (Bild: Coralie Wenger)

ST. GALLEN/STECKBORN. Der Alpstein ist Projektionsfläche für mancherlei grenzgängige Begierden. An ihm glühen, schmelzen, wuchern, gedeihen Phantasien, raunen Mystik und Mythen. Sehnsüchte keimen und prallen mitunter am Fels ab wie Kugeln aus dem Gewehr eines Jägers.

Ein solcher ist nirgends auszumachen, dafür atmet und pocht das Wilde aus felsig-grasigen Kuppen. Arme schrauben sich als stossende Stengel aus noch eisig kalter Erde in die Luft, hart der Grund, physisch erlebbar im dämmrigen Raum der Kunsthalle. Einlass in diese sonst nur im Sommer bespielbare ursprüngliche Industriebaute gaben die Betreiberinnen und Betreiber der Halle, und sie taten gut daran: Man kann sich kaum einen stimmigeren Ort vorstellen für dieses dichte, kühle Bewegungsdrama – Wildbahn, Laufsteg, Schlachthof zugleich. Man fühlt sich, stehend im Raum das Geschehen verfolgend, wie gegen die Felswand gedrückt und doch im freien Fall. Die Gefahrenzone ist unmittelbar; wir sind Wilderer und Flüchtende zugleich, und das Wohlfühlterrain ist momentan ganz woanders.

Nichts wirkt strapaziert

Es friert einen bis in die tiefsten Seelenschichten. Pelz täte not. Die Performerinnen tragen welche; es sind unterschiedlich gearbeitete haarige «Häute». Mal verkrümeln sie sich darin, dann wieder halten die Gehäuteten ihre umgestülpten körperlosen Hüllen gegen die Wand, als suchten sie für die Trophäen den richtigen Platz.

Die originellen Kopfputze dazu stammen von Eva Butzkies. Sie deuten – märchenhaft – sowohl fortziehendes und in Netzen landendes possierliches Federvieh als auch jede andere Art von nomadisierendem «Wildwechsel» an. In schnellen Flashes wechseln Rhythmen und Bilder, und es ist nicht immer klar, welche Art von Tier der Mensch ist. Es obsiegt aber die Erkenntnis, dass Gisa Franks «Wildwechsel» viel mehr meint als das Ausloten des eigentlichen Begriffs: In jeder Kreatur und nicht nur im äsenden Tier wohnt das Wilde, Unberechenbare und Unzähmbare. Davon erzählt ihre aktuelle poetische Arbeit. Die Bewegungsabläufe der elf agierenden Frauen aus unterschiedlichen dem Tanz und der Bewegung zugewandten beruflichen Genres wirken alle erfrischend unstrapaziert. Nach dem lichtscheuen Frühlingserwachen, verschlafen noch und ahnungslos, ballen sich die hoch aufgerichteten Körper zu einer dominanten Marscheinheit, bestehend aus Models, Zuchtmeistern, Scheinheiligen, Fetischisten?

Die Raumsäulen in Arbon wie Baumstämme als dürftiger Schutz gegen die Lebensbedrohung. Doch schon werden die Rollen neu verteilt – aus Opfern werden Täter, die Flucht ist aussichtslos. Atemlose Treibjagd, Leiber klatschen gegen Wände, kraftloses Fallen, Blut lecken im Delirium. Es muss gefällt – gequält – gehäutet – geschlachtet – ausgebeutet werden. Das Wilde genauso wie der Drang nach ihm. Der Masslosigkeit und Impertinenz ist keines Wesens Haut heilig.

Gisa Frank, bis Ende 2014 künstlerische Leiterin des Tanzfestivals «Tanzplan Ost» und Mitbegründerin der IG Tanz, hat lange und geduldig hingehört und -geschaut. Stimmungen, Spuren, Fundstücke und Emotionen sind in dicht erzählte und berührende Erzählstränge übersetzt.

Interdisziplinäre Produktion

Das Material stammt aus drei Jahren Recherche. In einem grösseren «Menschenrudel» wanderte sie während Wintermonaten etappenweise im Alpstein, begleitet von Kameramann Andreas Baumberger. Dessen filmischer Beitrag ergibt die Videoprojektion des Abends, kombiniert mit Klang und Stimmen, arrangiert, produziert und live aufgeführt von Coretta Bürgi, Sven Bösiger, Martin Benz, Katharina Kern und Jürg Surber.

Die nun von den bergigen Hängen in den geschlossenen Raum transportierte – in Arbon noch auf zwanzig Minuten reduzierte – Performance dürfte als abendfüllende interdisziplinäre Produktion zum ausdruckstarken Tanzereignis werden.

• Lokremise St. Gallen: Do/Fr, 22./23.1., 20 Uhr; Sa, 24.1., 17 und 20 Uhr; Reservation: wildwechsel@frank-tanz.ch; • Phönix-Theater Steckborn: Fr/Sa, 6./7.2., 20.15 Uhr. Reservation: www.phoenix-theater.ch