Hier sind Menschen sich selber

Beeinträchtigt oder nicht – diese Kategorien verwischen sich völlig im Bühnenstück «Im Dunkelwasser fischen». Jubelnden Beifall gab es an der Premiere, jetzt geht das poetische Stück auf Tournée durch die Ostschweiz.

Dieter Langhart
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Bühnenstück zwischen Poesie und Melancholie: Vorpremiere von «Im Dunkelwasser fischen» in der Kunsthalle Arbon. (Bild: Andrea Stalder)

Bühnenstück zwischen Poesie und Melancholie: Vorpremiere von «Im Dunkelwasser fischen» in der Kunsthalle Arbon. (Bild: Andrea Stalder)

WEINFELDEN. Sie halte ein Tütchen mit Samen in der Hand, sagt sie. Sie sagt zu uns Zuschauern, aus Poesie und Melancholie entstehe Sehnsucht und die Sehnsucht wandere in den Körper. Sie verspricht uns Geschichten, Bilder, Andeutungen, und je nach unserer Perspektive fänden wir eine andere Spur durch dieses «poetische Gewächs».

Dann geht Micha Stuhlmann von der Bühne und überlässt sie für neunzig Minuten den neun Menschen, die sie angeleitet hat, ihre eigene Geschichte in Bilder und Andeutungen zu kleiden. Am Ende dieses Abends beweist der brausende Applaus, dass die Samen aus dem Tütchen aufgegangen sind, dass wir alle im Publikum neu und anders wahrnehmen können.

Unterschiede sind unwichtig

Die in Kreuzlingen lebende Micha Stuhlmann arbeitet mit Menschen, die beeinträchtigt sind oder nicht, die «anders» sind oder «normal». Diese Unterscheidung ficht die Künstlerin nicht an, sie will sie aufheben, will sie unsichtbar und unwichtig machen.

Nach «Wo ist Klara?» 2012 und «Nur mit mir allein zum Glück» 2014 hat sie ein teilweise neues Ensemble gebildet, hat mit ihm erneut nicht ein vorgegebenes Stück eingeübt, sondern es in den Beteiligten über Monate entstehen lassen. Und was wir sehen, sind schöpferische Kräfte, freigesetzt von Mut und Wille und gegenseitigem Vertrauen, die «Im Dunkelwasser fischen»: so bezeichnet der Titel das, was auf der Bühne vor sich geht.

«Ihr könnt sanft schlafen»

Eine Frau sitzt allein auf einem Stuhl, regungslos blickt sie in die Stuhlreihen und durch sie hindurch. Und sie spricht: «Ihr könnt sanft in meinen Armen schlafen.» Die andern sind barfuss und hell gewandet und haben ihren Kopf auf je ihr grosses, weiches Kissen gebettet. Eine junge Frau hält ihr Gesicht über eine Schale voll Wasser, die Kamera projiziert ihre grossen, erstaunten Augen auf die Leinwand im Bühnenhintergrund, Wassergeräusche kommen hinzu. Jetzt erheben sich die Liegenden, klopfen auf ihre Kissen und tanzen über die Bühne.

So beginnt alles, und enden wird es mit einer Kissenschlacht und einem Band, das um alle geschlungen und wieder entrollt wird. Dieses Alles ist aus lockeren Szenen gewoben, aus Sequenzen, die stets das Gemeinschaftliche bewahren, die aber immer wieder den Darstellern erlauben, einzeln oder zu zweit hervorzutreten und «You are so beautiful» zu singen oder Sätze zu sagen, in die Luft zu springen oder sich am Boden zu drehen.

Radikal anders

Das ist radikal anders als ein konventionelles Theaterstück, auch wenn sich «Im Dunkelwasser fischen» dieselben Elemente und Stilmittel finden und es sich in derselben Umgebung ausbreitet, ausufert, sich wieder zusammenzieht. Das ist überraschend, weil es unseren Kopf ausschaltet, weil es Unsichtbares sichtbar macht, weil es uns wie an einer geheimnisvollen Hand durch ein Geschehen führt, das sich unserem rationalen Verständnis entziehen will, entziehen soll, entziehen muss, eben gerade weil es archaische Handlungen enthält: Eine Frau wäscht einem Mann langsam die linke Hand, dann wiederholt sie dies für einen anderen Mann. Das ist berührend, weil sich diese Menschen uns Zuschauern so schlicht und so vielschichtig öffnen, uns etwas aus ihrem Innern zeigen: Geschichten und Träume und wundersame Bilder.

«Lauter Persönlichkeiten»

Wie ein Tableau vivant mit angetönten Geschichten sei ihm das Bühnenstück vorgekommen, sagt einleitend Markus Landert, Leiter des Thurgauer Kunstmuseums. An der Vorpremiere in der Kunsthalle Arbon habe er seine Vorstellungen hinterfragen müssen, wie ein Schauspieler sein müsse. Gut, schön, eine Rolle spielen? «Nein, authentisch sein.» Hier träten nicht Schauspieler und Tänzer auf, sondern «lauter Persönlichkeiten, die sich selber sind.» Gewiss, sie seien ausgestellt, und es könne peinlich werden – für das Publikum, wenn es mit fixen Vorstellungen in die Vorstellung kommt.

«Im Dunkelwasser fischen» lebt stark von Raphael Zürchers Live-Projektionen und Marc Jennys Live-Klangspielen und Ellen Finus' zarten Kostümen, die zugleich das Miteinander betonen und jedem Darsteller etwas Unverwechselbares schenken. Wie schon bei «Wo ist Klara?».