LITERATUR: Bloss kein Hoffnungsträger

Vor sieben Jahren erhielt Melinda Nadj Abonji als erste Schweizerin den Deutschen Buchpreis. Jetzt schickt sie eine Romanfigur aufs literarische Parkett, die sich allen Erwartungen virtuos verweigert.

Julia Stephan
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Autorin Melinda Nadj Abonji erzählt vom Leben eines Unangepassten. (Bild: Sven Simon/Imago (20. März 2011))

Autorin Melinda Nadj Abonji erzählt vom Leben eines Unangepassten. (Bild: Sven Simon/Imago (20. März 2011))

Julia Stephan

2010 wurde Melinda Nadj Abonji zur Erfolgsautorin. Wegen eines Romans, der nicht ihr erster war. Mit «Tauben fliegen auf» hatte die als Angehörige einer ungarischen Minderheit in Ex-Jugoslawien geborene Autorin nach Ansicht vieler Medien den Schweizer Migrationsroman der Stunde geschrieben.

Die feindlichen Reflexe gegenüber Migranten aus dem Balkan waren wegen der sich gerade heiss laufenden «Deutschen-Überfremdungsdebatte» etwas in den Hintergrund gerückt. Und plötzlich war da die-ser unübersehbar autobiografisch motivierte Roman über eine Migrantenfamilie, die sich an der Zürcher Goldküste mit der Übernahme eines Cafés hemdsärmelig hochchrampft und dabei launisch zwischen Stolz und unterwerferischer Anpassung Pirouetten dreht, während die unter dem Jugoslawienkrieg leidenden Verwandten allzeit als schlechtes Gewissen im Nacken sitzen.

Als erste Schweizer Autorin überhaupt erhielt Nadj Abonji dafür den Deutschen Buchpreis, und den Schweizer Buchpreis gleich mit dazu. Das von ihr ungeliebte Etikett der «Migrationsautorin» wurde sie seither nie mehr los. Auch, weil sie sich engagiert bei politischen Debatten zu Wort meldet und als Historikerin das Thema Migration nicht verkürzt, sondern weitsichtig auf dem Zeitstrahl der Geschichte betrachtet.

«Tauben fliegen auf» unter umgekehrten Vorzeichen

Obschon Nadj Abonji als Spoken-Word-Poetin und Musikerin mindestens so überzeugend ist, ist es in den letzten Jahren ruhiger um sie geworden. «Tauben fliegen auf» machte nach langer Pause gerade erst in einer be- hutsamen Dramatisierung am Luzerner Theater wieder ein paar zarte Flügelschläge. Ein anderer Versuch der Dramatisierung ihrer poetischen, Begriffe umkreisenden Sprache, ging 2014 am Basler Theater aus Sicht der Autorin etwas daneben.

Nun erscheint genau dieser Basler Stoff – damals noch Rohdiamant – zum Roman geschliffen bei Suhrkamp. In gewisser Wei-se erzählt «Schildkrötensoldat» die Integrationsgeschichte aus «Tauben fliegen auf» unter umgekehrten Vorzeichen: als Geschichte eines Abstieges und einer gelungenen Nicht-Integration in eine lebensfeindliche ­Umgebung.

Vom Leben und Sterben des Zoltán Kertész

Wieder spielt der Jugoslawienkrieg im Hintergrund. Zwei Erzählstränge winden sich um den kurzen Lebensweg des in Gestalt und auch in der Gesinnung blauäugigen Zoltán Kertész. Den einen spinnt die Cousine Zoltáns, die in den Balkan reist, um die Puzzleteile von Zoltáns Leben und Sterben zusammenzusetzen, den anderen Teil der Geschichte erfahren wir von Zoltán selbst.

Zoli, wie ihn alle nennen, wächst in einem kleinen serbischen Dorf in grosser Armut auf. Papa und Mama leben im Alkoholrausch, Zoli im Rausch seiner blühenden Fantasie. Mama und Papa wünschen sich einen Sohn mit fettem Portfolio, Zoli löst lieber Kreuzworträtsel, lebt näher bei den Pflanzen als bei den Menschen und nennt sich einen Blumenkönig. Seinem Bäckermeister fällt er zur Last. Er hat ihn weggestellt wie einen Mehlsack. Und auch die Armee, die sein Ende bedeutet, schafft’s nicht, aus ihm einen Mann zu machen.

Diesem Menschen, dem wir dabei zuschauen, wie er die Wirklichkeit mit seiner Fantasie ausgarniert, während andere seine wunderliche Erscheinung als Lump und Schildkrötensoldat beschimpfen, teilt die gefährliche Naivität mit Dostojewskis «Idioten». Zoli setzt sich über jede Konvention hinweg, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Mit menschlichen Regungen gegen die Unmenschlichkeit

«Als Erwachsene werden wir anfällig fürs ‹Grosse›, für den ‹Überblick›», sagte die Autorin erst kürzlich in einem Interview. Genau dieser Überblick scheint Zoltán zu fehlen. Begriffe wirbelt er wortverspielt durcheinander. Die Fantasie macht ihn unkontrollierbar, schenkt ihm aber eine intuitive Einsicht in die Welt.

Nadj Abonji entwirft eine Art Passionsfigur – Zolis Grab liegt entlang eines Kreuzwegs –, die das Leid der Welt trägt ohne viel Geschrei, und eine Künstlerfigur mit dünner Membran, die alles aufnimmt, und nicht anders kann, als sich gegen die Unmenschlichkeit des Systems, in dem sie lebt, zu Wort zu mel- den. Die Schildkröte wird im Roman zur Metapher für die Suche nach Rückzug und Schutz, die der Figur durch Armeeangehörige oder seine übergriffigen Eltern nach und nach entzogen werden.

Letztlich geht es Nadj Abonji um die Bewahrung der Menschlichkeit in unmenschlichen Verhältnissen, wenn sie Zoltáns einzigen Armeefreund sagen lässt: «Zeig deine Furcht nicht, Zoli, aber behalt sie immer in dir, das muss unser Naturgesetz sein.»