Auf dem Sprung zum Theaterprofi

Wieder bereitet sich ein St. Galler Theaterenthusiast auf eine Profilaufbahn vor: Puppenspieler und Regisseur Sebastian Ryser beginnt im Herbst in Berlin eine vierjährige Ausbildung. Vorher zeigt er seine neueste Inszenierung: Ein laszives Rachedrama.

Hansruedi Kugler
Drucken
Geschwister mit Theaterblut: Franziska und Sebastian Ryser. (Bild: Ralph Ribi)

Geschwister mit Theaterblut: Franziska und Sebastian Ryser. (Bild: Ralph Ribi)

Hansruedi Kugler

Womöglich sitzt einem gerade ein künftiger St. Galler Schauspielchef gegenüber. Vielleicht in 15 Jahren. Der Mann ist ja erst 25 Jahre alt, die Vermutung aber ist gar nicht abwegig. Das Figurentheater in St. Gallen war das zweite Kinderzimmer von Franziska, Benjamin und Sebastian Ryser. Ihr Vater Tobias hat es jahrelang geleitet. Schon als Jugendliche bewegten sie die Figuren auf der Bühne. Während der ­Kanti gründeten die Zwillinge Franziska und Sebastian zusammen mit Dominique Enz eine Theatergruppe, aus der später das studentische Theaterkollektiv «e0b0ff» entstand. Im Herbst beginnt Sebastian Ryser nun die Ausbildung an der Berliner Hochschule Ernst Busch für Puppenspiel – jene Schule, die auch Jonas Knecht, der aktuelle Schauspieldirektor des Theaters St. Gallen, absolviert hat. Der hat seine Laufbahn schliesslich ebenfalls im hiesigen Figurentheater begonnen.

Als Zuschauer kann man sich hier nicht verstecken

Drei Stücke hat das Theaterkollektiv «e0b0ff» bereits auf die Bühne gebracht – ohne Gagen, mit purer Theaterleidenschaft. Zuletzt sah man vor zwei Jahren in St. Gallen das Königsdrama «Edward II», weit mehr als bloss ambitioniertes Studententheater. Franziska Ryser, studierte Maschinenbauingenieurin und Präsidentin des St. Galler Stadtparlaments, ist bei dieser Produktion für das Lichtdesign zuständig. Nicht nur Sebastian Ryser steigt ins Profifach ein: Stückautor ­Dominik Holzer studiert am ­Literaturinstitut in Biel, Dramaturgin Dominique Enz Regie in Hamburg. Premiere des neuen «e0b0ff»-Stücks war letzten Freitag in Zürich, in einem Kellerklub. Dreissig Zuschauer, mehr passen dort nicht rein. Wesentlich mehr sollen es auch in den St. Galler Aufführungen im Lattich nicht sein – wegen der Szenerie. Denn als Zuschauer kann man sich hier nicht verstecken. Der Titel ist eine Wucht: «Wie eine Barke das Meer aus Testosteron durchpflügen». Nichts weniger als der uralte, ­ nie endende Geschlechterkampf wird hier verhandelt – in einer ­makabren, zeitgenössischen und politischen Version.

Im transparenten Rechteck aus Goldlametta (Bühne: Maurus Leuthold) spricht Lisa Walder jede und jeden im Publikum süss und lasziv mit «Hallo Max» an. Kaum sitzen wir auf den lose verteilten Kartonhockern, schon kleben wir im Spinnennetz. Denn wir alle sind Max, haben zumindest einen scheuen, aber zugleich selbstgefälligen, gedankenlosen Macho-Max in uns.

Die schwüle Nachtklubatmosphäre macht uns zugleich zu Voyeuren und Racheopfern. «Sie lässt sich von dir ficken, fesselt dich, und jetzt bist du hier.» Hinzufügen muss man: Am Ende wird Max abgemurkst. Das sei nicht persönlich gemeint, meint die Mörderin, er stehe stellvertretend für alle Mäxchen, Schwulenhasser und Machos. Kein Messer blitzt, kein Blut spritzt: «Das wäre bloss Schiessbudenzauber», sagt Franziska Ryser. Die Sprache aber blüht auf: Körperlich präzis, poetisch, sarkastisch märchenhaft, erotisch, unverblümt und nicht zuletzt angereichert mit Zitaten. Man erkennt in «dein Schwanz ist deine Achillesferse» Amazonenkönigin Penthesilea und hört Maria Callas ihre Gänsehaut auslösende «Casta Diva»-Arie aus der Bellini-Oper «Norma» aus dem Lautsprecher: Verzweifelte Beschwörung und Vorbote des Wahnsinns.

Rache mit sympathischer Variété-Leichtigkeit

All das hebt die Inszenierung aus der Eindeutigkeit seiner literarischen Vorlage. Dem Stück zugrunde liegt die Erzählung «Mörderische Huren» des chilenischen Autors Roberto Bolaño. Dort sieht eine junge Frau am Fernsehen einen Naziparolen schreienden Mann im Fussballstadion. Sie entschliesst sich, ihn zu suchen, zu verführen und umzubringen: Eine von der Gesellschaft zur Aussenseiterin Gestempelte rächt sich an einem Vertreter der chauvinistischen Mehrheitsdiktatur.

Die Grundkonstellation behält Ryser bei. Richtig dämonisch wird es nicht. Die Inszenierung behält eine sympathische Variété-Leichtigkeit. Die beiden Schauspieler Dominik Holzer und David Koch tänzeln und staksen auf ihren Stilettos, sind mal Mann, mal Frau, verknäueln sich, verführen und necken uns Mäxchen im Publikum, die wir ein wenig gegen die Schamesröte ankämpfen. Nicht nur, weil wir gespannt sind, ob Holzers viel zu enge Lederhose platzt. Das tut sie übrigens nicht. Eine kluge, sehr unterhaltsame Theaterstunde.

Fr–So, 28.–30.7., je 20 Uhr, Lattich, Güterbahnhofstrasse 8, St. Gallen