Markus Reich kombiniert Platanenblätter mit Fotografie, auf der Suche nach Bildern für den rätselhaften Vorgang des Erinnerns. Der Präsident der Galerie vor der Klostermauer stellt in seiner eigenen Galerie aus.
Erinnerungen sind flüchtig, immer in Veränderung begriffen, manchmal trügerisch und für jeden Menschen einzigartig. Seit Jahren beschäftigt sich der Romanshorner Künstler Markus Reich mit dem rätselhaften Vorgang des Erinnerns. Am Anfang dieser Auseinandersetzung stand die Demenzerkrankung seines Vaters: «Ich staunte, dass er sich an Dinge erinnerte, die ich vergessen hatte.» Nachdenklich stimmt den Künstler ausserdem die heutige totale Wissensgesellschaft: «Was bleibt von all den Daten? Was behalten wir?»
Bäume – insbesondere Platanen – sind für Markus Reich Erinnerungsspeicher. Das hat mit einem Schlüsselerlebnis in einem Park in Solothurn zu tun. «Was dieser Baum wohl alles zu erzählen hätte», schoss ihm beim Anblick der zerfurchten Rinde einer mächtigen Platane durch den Kopf. So lag es für den Künstler nahe, Platanen und Erinnerungen miteinander zu verbinden. In der neuen Werkserie «Still wohnen Augenblicke», die er in der St. Galler Galerie vor der Klostermauer zeigt, gelingt es ihm, etwas vom Geheimnis der Erinnerung sichtbar zu machen. Die Ausstellung ist ein Heimspiel: Seit letztem Frühling ist Markus Reich Vorstandspräsident der Galerie.
Vier Schachteln gefüllt mit Platanenblättern stehen bei Markus Reich im Atelier. Er kocht die trockenen Blätter aus und bürstet sie danach ab. Am Ende sind die Blattgerippe ausgebleicht, fast transparent und damit bereit, als Projektionsfläche für Reichs Fotografien zu dienen. Der Künstler hat seine Digitalkamera immer dabei und wenn ihn unterwegs ein Motiv «poetisch anrührt», drückt er ab. Das können die ausrangierten und aufeinandergestapelten Eisenbahnschienen beim Bahnhof Roggwil sein oder die Spanischen Gänseblümchen, die bei Hochwasser trotzig ihre Köpfe aus dem Bodensee recken. Auch ein einsamer Fernseher, der auf einer Berliner Parkbank auf bessere Zeiten wartet, ist unter den Bildern. Bewusst verwendet der Künstler nur unbearbeite Fotografien: «Jeder Erinnerungsmoment ist einmalig.»
Die auf die Blätter projizierten Fotografien verfremdet Markus Reich zusätzlich, indem er von der Seite her das Licht einer Taschenlampe darauf richtet. So entstehen Interessante Überlagerungseffekte. Wie Erinnerungsfetzen treten manche Stellen hervor, andere verblassen. Manche Motive finden sich zweimal, doch durch die veränderte Beleuchtung wirken sie wie zwei unterschiedliche Bilder. Die Irritation ist beabsichtigt: «Erinnerung ist nichts Statisches», sagt der Künstler. Manche Erinnerungen sind so schlimm, dass unser Unterbewusstsein sie unter Verschluss hält. Darauf spielt Markus Reich an, indem er die Fotografien mit Wachs imprägniert. Um schlechte Erinnerungen geht es in einer dreiteiligen Fotoserie im oberen Stock der Galerie. Der Künstler hat dafür die welken Blätter hinter einer Plastikfolie ausgelegt und beleuchtet. Unheimlich wirkt diese Szenerie, man glaubt gar, zwischen den Blättern Fratzen zu erkennen.
Christina Genova
Bis 12.2.; Galerie vor der Klostermauer, St. Gallen. Sonntagsapéro 5.2., 11–13 Uhr.