Die Corona-Impfung und die Ausweitung der Zertifikatspflicht führen zu zunehmenden Aggressionen. Daraus werden aber oft die falschen Schlüsse gezogen.
Der Satz verbreitet sich gerade schneller als die Deltavariante. Politiker, Verbandsdirektoren und Wissenschafterinnen sind gleichermassen infiziert: Alle reden sie von der «Spaltung der Gesellschaft».
Für Casimir Platzer, Präsident von Gastrosuisse, droht eine «Spaltung der Gesellschaft», wenn der Bundesrat das Zertifikat auch in Restaurants zur Pflicht macht.
Für Lukas Engelberger, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren, sind personalisierte Impfkampagnen «ein Weg, um die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.»
Für Christoph Pfluger, Initiant der «Verfassungsfreunde», betreibt die Politik die «Spaltung der Gesellschaft», wie nie mehr seit der Reformation.
Das Einzige, worin sich unsere gespaltene Gesellschaft einig ist, scheint der Befund zu sein, dass sie gespalten ist. Woher rührt diese seltsame Einigkeit?
Corona lässt alle anderen Probleme und Themen niedlich oder nichtig aussehen, darum wird stets am ganz grossen Rad gedreht. In der Arbeitswelt wird nichts mehr sein wie vorher. Beim Reisen auch nicht. Alles, aber wirklich alles, wird durch Corona über den Haufen geworfen, Liebesbeziehungen, die Sozialisation von Kindern und die Art und Weise, wie wir uns ernähren. Corona – Weltrevolution!
Da ist nur logisch, dass es auch beim Impfen nicht darunter geht: Spaltung der Gesellschaft! Aber stimmt das?
Anders als bei den Gräben, über die am 1. August mit tiefernster Miene gesprochen wird, etwa denjenigen zwischen Deutsch- und Westschweiz, handelt es sich hier nicht um eine Spaltung der Gesellschaft. Das Impfen teilt nicht das Land, gefährdet nicht dessen Zusammenhalt. Beim Impfen verlaufen die Gräben nicht durch die Gesellschaft als Ganzes, sondern durch Familien, Vereine, Parteien, Firmen, Nachbarschaften...
Gespalten sind die Mikrokosmen, in denen wir leben. Die Gesellschaft wird dadurch sogar stabilisiert, vor einem Auseinanderbrechen geschützt.
Wirbt das SVP-Urgestein Ueli Giezendanner in Inseraten fürs Impfen, während sich sein Sohn, Nationalrat Benjamin Giezendanner, medienwirksam vernehmen lässt, er sei nicht geimpft, führt das möglicherweise zu schwierigen Diskussionen am Familientisch, hat jedoch gesellschaftlich etwas Integrierendes. Die Botschaft: Es ist okay, sich als SVPler impfen zu lassen. Es ist aber auch okay, sich als SVPler nicht impfen zu lassen.
In den USA ist das anders. Amerika ist zweigeteilt, Impfen und das Maskentragen gelten als politischer Akt: Man ist für die Demokraten, wenn man es tut. Republikaner, Trump inklusive, wagen es kaum mehr, vom Impfen zu sprechen. Eine solche totale Polarisierung ist gefährlich für jedes Land. Sie kann zu Aufständen, Gewalt und Toten führen, wie der Sturm aufs Kapitol zum Ende von Trumps Amtszeit zeigte.
In der Schweiz passt das Impfen in kein politisches Schema. Die grössten Skeptiker finden sich bei so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wie Balkan-Secondos, jungen Frauen und SVP-Sympathisanten. Diese Gruppen haben sonst wenig gemeinsam.
Das heisst nicht, dass die mikrokosmischen Gräben harmlos sind. Damit umzugehen, ist für den einzelnen Menschen sogar schwieriger, als sich in einer gespaltenen Gesellschaft zurechtzufinden. Mit der Partnerin oder seinen Teenagerkindern über das Impfen zu streiten, kann belastend sein; mit ihnen hingegen über «die vom Land» oder «die von der Stadt» zu spotten, die einen anderen Lebensstil haben, das ist bequem.
Oft bewegen wir uns in Bubbles, die Immunität bieten, weil wir darin nur Gleichgesinnten begegnen. Die Impf-Frage sticht in diese Bubble. Plötzlich sitzen wir Andersdenkenden gegenüber, und darauf sind viele nicht vorbereitet. Vielleicht erklärt das die Aggressionen, die sich vor allem in den sozialen Medien zeigen (zum Glück weniger im realen Leben).
Wir müssen lernen, Meinungsunterschiede auszuhalten, auszutragen und fruchtbar zu machen. Gelingt uns das als Individuen – im Familien- und Freundeskreis –, stärkt das auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft.