Wochenkommentar
Kiffen, Konsens, Kleinparteien: So viel Schweiz steckt in der neuen deutschen Ampel-Regierung

Nicht nur des lockeren Umgangs mit Cannabis wegen begibt sich unser Nachbar mit der neuen Regierung aus SPD, FDP und Grünen auf helvetische Pfade. Nur: Wie viel Einigkeit verträgt das Land? Die Coronakrise dürfte die von sich selbst berauschten Koalitionäre schnell auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Fabian Hock
Fabian Hock
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Ein Herz und eine Seele - zumindest im Moment: Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner (von links nach rechts). Wie lange hält die gute Stimmung unter den Ampel-Chefs?

Ein Herz und eine Seele - zumindest im Moment: Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner (von links nach rechts). Wie lange hält die gute Stimmung unter den Ampel-Chefs?

Markus Schreiber / AP

Solche Bilder kannte man aus Deutschland gar nicht mehr. Da standen am Mittwoch Politikerinnen und Politiker aus drei Parteien auf einer Bühne und überschütteten sich mit Lob. Der liberale Christian Lindner, designierter Finanzminister, lächelte den Grünen zu. Annalena Baerbock, die nächste Aussenministerin, schwärmte von der Stimmung. Und allesamt huldigten dem baldigen Kanzler von der SPD: Olaf Scholz. Die Zerwürfnisse zwischen Liberalen und Grünen? Vorbei. Die Plagiatsvorwürfe an Baerbock? Vergessen. Stattdessen Einigkeit, Freude und Konsens.

Tatsächlich ist es ein kleines Wunder, was Scholz in den letzten Wochen gelungen ist. Denn seine Partei war politisch tot. Und Scholz, der immer betonte, er wolle Kanzler werden, war für viele nicht mehr als eine Lachnummer. Die Auferstehung gelang ihm durch seine sachliche, unauffällige – also fast helvetische – Art. Ein Hinweis darauf, wie in Berlin künftig Politik gemacht wird? Verschweizert Deutschland gar ein wenig?

Für Aufsehen sorgt die geplante Legalisierung von Cannabis. Freiheitsrechte im grossen Stil wird die FDP als kleinste Juniorpartnerin allerdings kaum durchsetzen können. Inhaltlich spricht also wenig dafür. In der politischen Kultur hat sich derweil durchaus etwas getan in den letzten vier Jahren. Unvergessen, wie damals die Koalitionsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen in der Katastrophe endeten. Ohne jede Spur von Vertrauen und der Fähigkeit zum Kompromiss. Ganz anders in diesem Jahr. Die Ampel steht unter einem anderen, bislang wirklich guten Stern.

Die geplante Legalisierung von Cannabis sorgt in Deutschland für besonderes Aufsehen.

Die geplante Legalisierung von Cannabis sorgt in Deutschland für besonderes Aufsehen.

Keystone

Die Intensivstationen sind voll, die Bundeswehr fliegt Coronapatienten aus

Die Fassade funkelt, der Blick dahinter lässt jedoch vermuten: so einträchtig wird es kaum bleiben. Vielleicht hat die Ampel-Koalition ihre beste Phase sogar bereits hinter sich, bevor sie überhaupt vereidigt wird. Denn was auf Scholz, Lindner und Baerbock zukommt, dürfte ihre Differenzen schon bald wieder aufbrechen lassen. Als erstes wird das beim Umgang mit der Pandemie deutlich werden. Denn anders als etwa beim Klima, wo die Pläne der Koalitionäre einiges an Konfliktstoff beinhalten, hat die Ampel für die Pandemie gar keinen. Dabei droht die vierte Welle dramatisch zu werden: Die Bundeswehr fliegt bereits Coronapatienten aus Bayern in den Norden, weil die Intensivstationen im Süden voll sind.

Immerhin die Impfkampagne will die Ampel ausweiten. Schön und gut. Doch, um kurz persönlich zu werden: Während sich bis in höchste Regierungskreise lieber der Kopf über den Impfstatus von Fussballstar Joshua Kimmich zerbrochen wird, sieht die Impf-Realität in Deutschland ganz anders aus. Um sich Boostern zu lassen fährt mein 70-jähriger Vater eine halbe Stunde lang zum nächsten Impfbus, bei dem es von Behördenseite aus heisst: «Eine Voranmeldung ist nicht notwendig». Vorort wird er mit der Begründung abgewiesen, dass eine Voranmeldung notwendig sei. Zum zweiten Termin, noch weiter entfernt, nimmt er einen Klappstuhl mit und einen Heizstrahler für den Campingbus, in dem sich meine (geboosterte) Mutter und er abwechselnd aufwärmen, während einer der beiden in der endlosen Schlange wartet.

Naiver Blick auf inhaltliche Differenzen

Im Mikro-Management der Coronakrise liegt in Deutschland vieles brach. Aber auch bei den grossen Fragen der Pandemie wie einer möglichen Impfpflicht haben die Liberalen und die staatsgläubigen Grünen unterschiedliche Ansichten. Solange diese nicht getestet werden, bleibt die Stimmung gut. Oder, wie Annalena Baerbock am Mittwoch sagte: Wenn sie eine 9 sehe und Lindner eine 6, dann könnten ja beide recht haben. Dieser traumtänzerische Blick auf inhaltliche Differenzen funktioniert nur so lange bis die Bürger wissen wollen, welche Zahl denn nun wirklich auf dem Zettel steht.

Mit der Zerbröselung der einst grossen Volksparteien hat sich Deutschland der helvetischen Parteienlandschaft durchaus angenähert. Durch die Bildung der Ampel haben die Beteiligten überdies Konsensfähigkeit bewiesen. Die «Verschweizerung» der politischen Kultur in Deutschland dürfte indes höchstens eine Momentaufnahme sein.