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Meinung
Je länger die Coronakrise dauert, desto mehr wird uns bewusst, dass diese Pandemie nicht so schnell zu Ende sein wird. Wir müssen lernen, mit Corona zu leben.
Als die erste Welle vor einem Jahr über Europa schwappte, glaubten wir noch, dass spätestens im Sommer alles wieder vorbei sei. Doch dann kamen im Herbst die zweite Welle und ein zweiter Lockdown. Im Frühling, so damals die Hoffnung, wenn die Impfkampagne richtig anläuft und die Temperaturen wieder steigen, sollte die Sache ausgestanden sein. Weit gefehlt. Nun sind zusätzliche Verschärfungen viel wahrscheinlicher als Lockerungen. Die dritte Welle rollt an. Nach der bisherigen Logik wäre ein dritter Lockdown unvermeidlich.
Je länger die Coronakrise dauert, desto mehr wird uns bewusst, dass diese Pandemie nicht so schnell zu Ende sein wird. Klar, wir haben nun Impfstoffe. Doch der Fahrplan verzögert sich diese Woche zum wiederholten Mal. Das Ziel, alle Schweizer zu impfen, die das wollen, hat der Bundesrat eben von Juni auf Juli verschoben. Doch ob das möglich ist und damit eine Herdenimmunität von 75 oder gar 80 Prozent erreicht wird, ist alles andere als klar – zumal es noch gar keine Impfstoffe für Kinder gibt. Ein erstes klares Indiz dafür, dass auch in diesem Sommer die Normalität nicht zurückkehren wird, sind die ersten Absagen der Open Airs.
Doch es geht nicht nur um die Impfquote der Schweiz. Das Wesen einer Pandemie ist ihre globale Ausbreitung. Was nun in Brasilien passiert, betrifft auch uns. Der brasilianische Neurowissenschafter Miguel Nicolelis, einer der angesehensten Forscher Südamerikas, drückt es so aus: «Brasilien ist ein Risiko und ein Problem für die Weltgemeinschaft.» Je ungehemmter das Virus zirkuliert, desto wahrscheinlicher ist das Entstehen neuer und tödlicherer Varianten.
Gemäss aktuellen Studien befällt die brasilianische Variante 60 Prozent jener Menschen, die schon einmal an Covid-19 erkrankt sind. Zum Glück scheinen die meisten Impfstoffe gegen diese Mutation zu wirken. Dennoch zeigt sich: Man ist nicht einfach immun gegen Corona. So wie man auch nicht immun gegen die Grippe ist, sondern jedes Jahr wieder aufs Neue daran erkranken kann.
Dass Covid-19 wieder aus der Welt geschaffen werden kann, entpuppt sich zunehmend als Illusion. Wahrscheinlicher ist, dass das Virus endemisch wird, es also unter uns bleibt und sich verändert wie die Influenza. Zum Glück kann man sich dank der Fortschritte der Medizin dagegen schützen. Die Vakzine lassen sich updaten, also an neue Stämme anpassen. Bedenkt man aber, wie schleichend die Durchimpfung derzeit vonstattengeht, so wird erkenntlich, welchen Kraftakt das bedeutet, wenn sich jeder Mensch jährlich gegen Corona impfen lassen muss.
Ja, die Menschheit ist zu vielem fähig: Sie kann auch Covid-19 in den Griff bekommen. Allerdings nicht von heute auf morgen. Wenn die Rede von «Long Covid» ist, sind langanhaltende Symptome der Viruserkrankung gemeint. Es braucht aber auch eine gesellschaftliche «Long Covid»-Strategie zur Eindämmung der Krankheit, und diese kann nicht nur aus Symptombekämpfung bestehen.
Wenn die Politik auf steigende Fallzahlen mit einem Lockdown reagiert, geht das ein-, zweimal gut. Über Jahre kann die Gesellschaft aber nicht so leben. Ausserdem wird die Bereitschaft immer mehr abnehmen, sich an die Regeln zu halten.«Der Lockdown ist eine Notfallreaktion eines in Schock versetzten Tiers», sagte der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit der «Schweiz am Wochenende».
Natürlich kann die Lösung auch nicht in einer Laissez-faire-Politik bestehen. Viel mehr geht es darum, dass wir lernen, mit Covid-19 so normal wie möglich zu leben. Die Mittel dazu sind bekannt, und wir haben sie in der Hand: Schutzmassnahmen wie Masken, (Selbst-)Tests, Contact-Tracing und Covid-App. Wie wir sie am sinnvollsten einsetzen, um den Menschen während dieser Pandemie möglichst grosse Freiheiten und ein Stück Normalität zurückzugeben, darüber haben wir bisher erschreckend wenig gelernt. Im nun angebrochenen Jahr zwei der Pandemie muss sich das ändern.