Kolumne
Papa-Blog: «Wart chorz!» Warum Kinder das Warten lernen müssen – und Eltern auch

Ein Baby schreit, wenn es nicht sofort bekommt, was es möchte. Das passt. Doch schon Kleinkinder sollten lernen zu warten. Selbst wenn sie dieses Prinzip später einmal gegen einen verwenden.

Roger Berhalter
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Nein, jetzt noch nicht: Ein Bub praktiziert vor einer Schüssel Marshmallows die Kunst der Verzögerung.

Nein, jetzt noch nicht: Ein Bub praktiziert vor einer Schüssel Marshmallows die Kunst der Verzögerung.

Bild: Getty

Wer ein Baby hat, ist ständig im Akutmodus. Alle Bedürfnisse des Kleinen sind dringend, und stillt man sie nicht sofort, gibt's Geschrei. Ich bin froh, ist diese Zeit vorbei. Unsere Familie ist nicht mehr im Akutmodus, im Gegenteil: Heute bittet bei uns fast ständig irgendwer irgendjemanden zu warten.

Es begann mit dem Erziehungsratgeber «Warum französische Kinder keine Nervensägen sind» von Pamela Druckerman. Die Amerikanerin beschreibt darin, wie sie nach Paris zieht und dort lauter braven, artigen Kindern begegnet sowie deren Müttern: stilbewusste Powerfrauen, stets top gekleidet und sexuell aktiver denn je. (OK, ich spitze zu. Aber Druckerman tut das auch. Nichtsdestotrotz ist ihr Buch interessant. Vor allem für Eltern im Akutmodus.)

Mit Frust umgehen lernen

Jedenfalls beobachtet die Amerikanerin, dass Französinnen ihren Kindern häufig scharf «Attend!» sagen, wenn diese etwas von ihnen wollen. Sie schreibt:

«‹Warte!› bedeutet, dass das Kind nicht umgehend bekommt, was es will, und dass es sich auch selbst beschäftigen kann.»

Natürlich kann man ein Baby mit vollen Windeln nicht mit einem simplen «Warte!» vertrösten. Aber schon Kleinkinder können mit Warten umgehen – und müssen es meiner Meinung nach auch.

Denn Warten zu können heisst nichts anderes, als mit Frust umgehen zu können, und das ist etwas vom Wichtigsten im Leben. Wer diese Kunst beherrscht, muss sich später nicht ständig mit dem Smartphone ablenken, wenn der Bus erst in zwei Minuten kommt. Er braucht beim Online-Bestellen auch keine Lieferung am selben Tag; Same-Day-Delivery ist für Babies.

Das Prinzip der Verzögerung

Mein achtjähriger Bub verwendet das Prinzip der Verzögerung inzwischen gegen mich. Heute ist er es, der mich zum Warten zwingt. Will ich etwas von ihm, sagt er in seinem St.Galler Dialekt: «Wart chorz!»

Der Ausdruck ist in unserer Familie zum stehenden Begriff geworden. «Wart chorz!» sagt der Kleine, wenn er noch schnell ein Kapitel fertig lesen oder ein Level fertig spielen will. «Wart chorz!» ruft er aus dem Kinderzimmer, wenn ich ihn zum Essen rufe. «Wart chorz!», wenn er Zähneputzen soll.

Also warte ich. Und beherrsche mich. Und tröste mich mit den Worten von Pamela Druckerman:

«Aus französischer Sicht ermöglicht erst die Selbstbeherrschung, die Fähigkeit, gelassen zu bleiben, (...) dass Kinder Spass haben können.»

Der Autor

Roger Berhalter lebt mit seiner Frau und den zwei Söhnen (sechs und acht Jahre) in der Stadt St.Gallen. Er teilt sich mit seiner Partnerin die Erwerbs- und Hausarbeit. Am Backofen aber ist er der Chef.

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