Peter V. Kunz gehört seit kurzem zu den Fünzigjährigen. Der Professor für Wirtschaftsrecht sinniert darüber, was man mit 50 alles tun müsste, er aber dann doch nicht tut. Sondern er sieht einen wichtigen Vorteil mit seinem Alter.
Als Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Bern liegt meine juristische Expertise beispielsweise bei der anstehenden Aktienrechtsrevision, bei Finanzregulierungen oder beim Steuerstreit mit den USA. Zu solchen Themen nehme ich regelmässig Stellung. Wer nun vermutet oder hofft, dass ich mich im Folgenden zu «HSBC und Geldwäscherei» oder zum Übernahmekampf um Sika äussere, wird enttäuscht sein. Für einmal werde ich persönlich(er). Ich wurde am 1. Februar 1965 geboren (ich weiss, am gleichen Tag wie Prinzessin Stéphanie von Monaco – sie schaffte es mit ihrem 50. Geburtstag in die Sendung «Glanz & Gloria», ich nicht!). Dass meine Geburt genau 100 Jahre nach dem Beginn des Feldzugs von General William Tecumseh Sherman durch South Carolina im US-Bürgerkrieg erfolgte, dürfte wenige Leser interessieren, mich als «Civil War Buff» hingegen schon.
Eigentlich kenne und erlebe ich mich als Pragmatiker. Ich stehe recht abgeklärt im Leben. Von zweiflerischer oder esoterischer oder religiöser Selbstreflexion halte ich wenig. Ich denke nicht, dass ich sozusagen «auf Erden» bin für bestimmte Zwecke oder aus höheren Gründen. Ich bin, weil ich geboren wurde – und (noch) nicht verstorben bin! Geburtstage waren nie bedeutsam für mich, auch nicht die angeblichen «Meilensteine»: 20, 30 sowie 40. Mein demonstratives Desinteresse daran war nie gespielt. Partys zu meinen Geburtstagen waren immer ein No-go. Weshalb sollte ich feiern, dass ich geboren wurde? Es stellt sicherlich keine Leistung von meiner Seite dar. Wenn schon, müsste meine Mutter gefeiert werden, weil sie die massgebliche Arbeit dabei erledigt hat (übrigens: Merci!), und wir beide überlebt haben – auch wenn es damals knapp war.
Seit drei Wochen gehöre ich also zu den «Über Fünfzigern» (Ü50). Anscheinend gibt es «Ü50-Partys», «Ü50-Klubs» und «Ü50-Ferien». Ich verspreche, dass mich niemand je an solchen Anlässen treffen wird! Und trotzdem ... erstmals überhaupt hielt ich inne bei einem eigenen Geburtstag. Offen gesagt, ich bin etwas erschrocken über mich: Selbstreflexion – von mir? Wegen meines Geburtstags? Erlebe ich einen hormonellen Absturz oder eine (hoffentlich temporäre) Altersdepression? Soll oder muss ich mir jetzt eine Harley Davidson kaufen und eine junge Freundin suchen? Wahrlich: Fragen über Fragen ...
Ein Leben entwickelt sich in Phasen. Als 20-Jähriger begann ich mein Studium, als 30-Jähriger arbeitete ich als Rechtsanwalt in Zürich, als 40-Jähriger wurde ich an die Universität Bern berufen, und als 50-Jähriger werde ich in einigen Monaten Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Einige Ambitionen werden bescheidener und realistischer: Mit 20 wollte ich die Welt kennen lernen, mit 30 die Welt erobern, mit 40 die Welt verändern, jetzt mit 50 die Welt etwas mitgestalten und – hoffentlich – mit 60 die Welt geniessen.
Körperlich verändert sich viel, was ich selbst als junges Mitglied der «Ü50-Generation» – leider – bestätigen muss. Das Motto «Jeder ist nur so alt, wie er sich fühlt» hilft nicht weiter. Meine Assistentin Regina Kaufmann hat mir gesagt: «Ein 50-Jähriger, der ohne jegliche Schmerzen am Morgen aufsteht, ist vermutlich tot.» Optisch ist ebenfalls Vorsicht geboten. Momentan trage ich einen Vollbart (wegen der Semesterferien). Doch am Wochenende heisst es: Bart ab – ich muss ja nicht unbedingt wie ein Ü60 aussehen ... Vermutlich wurde ich durch meinen 50. Geburtstag etwas aus der Bahn geworfen, weil ich ziemlich sicher mehr als die Hälfte meines Lebens gelebt habe. Zwar stehe ich, hoffentlich, noch nicht am Ausgang, doch ich erahne ihn. Es kann nicht jedermann ein Hans Erni sein, der kürzlich seinen 106. Geburtstag feiern durfte.
Ein zentraler Vorzug von Ü50: eine grosse, grosse Gelassenheit! Ich muss niemandem mehr etwas beweisen: nicht meiner Familie, nicht meinen professoralen Kollegen, nicht der Universitätsleitung, nicht den Studenten, nicht den Politikern, nicht den Journalisten, nicht den Lesern dieser Kolumne – und insbesondere: auch nicht mir. Ich bin heute als «junger Ü50» zufrieden mit mir und meiner Umwelt. Ich rege mich weniger auf und tröste mich in Stresssituationen mit John Maynard Keynes: «Langfristig sind wir ohnehin alle tot».
Der Autor, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M., ist seit 2005 Ordinarius für Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung der Universität Bern.