Leitartikel des Verlegers
Der Westen muss seine Feigheit überwinden – und Putin endlich in die Schranken weisen

Russlands Präsident kennt nur die Sprache der Macht. Darum kann Putin, der Aggressor und Kriegsverbrecher, nicht mit halbherzigen Embargos gestoppt werden. Es geht um die Ukraine und noch um mehr: Um einen epochalen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie.

Peter Wanner, Verleger
Peter Wanner, Verleger
Drucken
In Berlin demonstrierten mehr als 100'000 Menschen gegen Putins Aggression. Der deutschen Politik und überhaupt dem Westen mangelt es aber an Entschlossenheit.

In Berlin demonstrierten mehr als 100'000 Menschen gegen Putins Aggression. Der deutschen Politik und überhaupt dem Westen mangelt es aber an Entschlossenheit.

Jörg Carstensen

Seit drei Wochen tobt ein brutaler Krieg mitten in Europa, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Angriff gegeben hat und russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind. Bis jetzt ist Putins Rechnung nicht aufgegangen. Er rechnete nicht mit dem heroischen Widerstand der ukrainischen Armee und des ukrainischen Volkes, glaubte vielmehr, nach einem Blitzkrieg würden sich die Ukrainer ergeben und dann wäre der Weg frei gewesen für die Einsetzung einer russlandhörigen Marionetten-Regierung.

So ohnmächtig wir zuschauen müssen und die Barbarei am Fernsehen verfolgen, so sehr hegen wir grosse Bewunderung für den Mut und die Freiheitsliebe der Ukrainer unter Führung ihres Präsidenten Selenski. Sie kämpfen für ihr Land und für ihre Freiheit, für westliche Werte und westlichen Lebensstil, weil sie nicht unter das Joch Putins, unter eine unmenschliche Diktatur ­geraten wollen. Und sie sind bereit, dafür ihr Leben zu opfern.

Politisch und moralisch hat Putin schon verloren

Schon jetzt hat Putin in verschiedener Hinsicht den Krieg verloren: Er hat ihn politisch verloren, weil er weltweit isoliert dasteht, er hat ihn moralisch verloren, weil er als Aggressor und Kriegsverbrecher wahrgenommen wird, er hat ihn kommunikativ verloren, weil Selenski ihm hier haushoch überlegen ist, und er hat ihn ökonomisch verloren, weil die vom Westen verhängten Sanktionen ihre Wirkung entfalten und die russische Wirtschaft in den Abgrund ziehen.

Kommt hinzu, dass er mit dem Überfall auf die Ukraine nicht nur den Abwehrwillen des ukrainischen Volkes gestärkt und die ukrainische Nation geeint hat, er hat auch die Nato geeint, die USA als Leader der freien Welt auf den Plan gerufen und die Deutschen zur Aufrüstung mit 100 Milliarden gebracht – sowie zur Abkehr von ihrer naiven Ostpolitik.

Militärisch hat der russische Diktator den Krieg aber noch nicht verloren. Putin steht zwar mit dem Rücken zur Wand und seine Truppen haben trotz numerischer Übermacht schwere Verluste erlitten, haben Versorgungs- und Logistikprobleme, und auch mit der Moral scheint es nicht zum Besten bestellt.

Ein der Vernunft zugänglicher Mensch würde in einer solchen Situation aufgeben oder Hand bieten zu einem Waffenstillstand. Ein Aggressor und Kriegstreiber wie Putin aber, der von einem grossrussischen Reich träumt, lenkt erst ein, wenn er den Krieg militärisch zu verlieren droht oder wenn sein Land wirtschaftlich erdrosselt wird. Als ehemaliger Geheimdienstoffizier ist Putin skrupellos, er kennt nur die Sprache der Macht.

Waffen liefern, Zögerlichkeit ablegen

In einer solchen Situation müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, dass erstens die Ukraine den Krieg nicht verliert und zweitens die Wirtschaft Russlands mit einem Öl-, Gas- und Kohle-Embargo so getroffen wird, dass Putin seinen wahnsinnigen Krieg nicht mehr finanzieren kann. Doch der Westen zögert und hadert teilweise noch immer und tritt zu wenig entschlossen auf.

Es brauchte einige Zeit, bis sich Deutschland endlich entschloss, auch Waffen zu liefern, anstatt nur Schutzhelme. Und US-Präsident Joe Biden ist zwar grosszügig bereit, Waffen zu liefern, jüngst nochmals für 800 Millionen Dollar, aber er ist noch nicht bereit, Kampfflugzeuge zu liefern und eine Flugverbotszone einzurichten, während die Nato zwar ihre Kampfbereitschaft erhöht, Truppen zusammenzieht und ihren Mitgliedstaaten Schutz verspricht, aber keinesfalls in einen Krieg hineingezogen werden will.

So sehr diese Haltung der Nato verständlich ist und die Angst vor einer Eskalation nachvollziehbar, so sehr ist sie letztlich feige, weil sie die Ukraine in ihrem Freiheitskampf im Stich lässt. Es war falsch, Putin zu signalisieren, dass man keinesfalls in einen Krieg hineingezogen werden will. Warum muss man das sagen? Das gibt Putin nur Planungssicherheit in seinem abscheulichen Krieg.

Das Versäumnis der Nato

Immerhin hat wenigstens Joe Biden eine rote Linie gezogen: Wenn Russland biologische oder chemische Waffen einsetzt, dann wird Amerika eingreifen. Warum hat die Nato nicht auch eine rote Linie gezogen? Warum hat sie zum Beispiel nicht gesagt: «Wenn ihr Kiew angreift, dann löst dies einen Luftschlag der Nato aus»? Oder zumindest: «Dann richten wir einen Luftkorridor ein, um die Zivilbevölkerung in Sicherheit zu bringen.» Das wäre eine Ansage gewesen. Eine Ansage, die Putin verstanden hätte.

Nur weil der russische Machthaber droht, Atomwaffen einzusetzen, darf man noch nicht in die Knie gehen. Auf diese Drohung hätte die Nato mit einer Gegendrohung antworten müssen. Denn wenn man Angst vor einer atomaren Drohung äussert, hat man schon verloren.

Es gibt seit Jahrzehnten ein atomares Patt. Jeder Atomschlag löst einen Gegenschlag aus, das ist die militärische Logik zwischen den Supermächten; und diese Logik hat auch Putin verstanden. Sonst könnte China morgen Taiwan überfallen mit der Drohung, wenn Amerika sich wehrt, setzen wir taktische Atomwaffen ein. China macht das nur deshalb nicht, weil die Machthaber genau wissen, dass dann der Gegenschlag kommt.

Erbärmliches Schauspiel

Erbärmlich war auch das Schauspiel um die russischen MiG-29-Kampfjets, die in Polen stationiert sind und der polnischen Armee gehören. Sie wären von der ukrainischen Armee dringend benötigt worden, weil die ukrainischen Piloten auf diesen Kampffliegern geschult worden sind. Man hätte sie einfach still und heimlich liefern müssen. Stattdessen hat man dies in aller Öffentlichkeit diskutiert und die Frage erörtert, ob dies Putin reizen könnte und der Westen so in einen Krieg hineingezogen würde. Der Kreml wird eine solche Zögerlichkeit des Westens mit Genugtuung registriert haben.

Noch schlimmer ist die zu wenig konsequente Haltung beim wirtschaftlichen Embargo. Wenn man schon sagt, wir wollen nicht in einen Krieg hineingezogen werden, und die Ukrainer allein kämpfen lässt, dann müsste man mit voller Wucht ein Embargo bei den Energielieferungen verhängen, und zwar so, dass es Russland wehtut. Wenn es dann dem Westen auch ein bisschen wehtut, sollte man dies in Kauf nehmen.

Deutschlands sträfliche Abhängigkeit von Russland

Deutschland insbesondere hat sich in eine unglaubliche und sträfliche Abhängigkeit von russischen Energielieferungen begeben. Über die Hälfte des Öl- und Gasbedarfs wird mit russischen Energielieferungen getilgt. Dass hier ein Embargo nicht schmerzlos an Deutschland vorbeigehen würde, ist klar. Aber ein totales Embargo würde die russische Kriegsmaschinerie eben viel schneller in die Knie zwingen.

Mindestens müsste man ein sofortiges Embargo über Öl- und Kohlelieferungen verhängen und bei Nordstream 1 den Gashahn zudrehen. Deutschland hätte wahrscheinlich genug Reserven, bis es zu einem Waffenstillstand kommt. Doch dieses Risiko will man nicht ein­gehen. Das eigene Hemd und der Wohlstand ist einem näher als das Blut, das in der Ukraine fliesst.

Geradezu weinerlich war der Auftritt des deutschen Vizekanzlers in der Talkshow von Anne Will. Robert Habeck war zu ehrlich und hat Putin in die Hände gespielt. Er sagte, es sei ein Fehler gewesen, sich in eine solche Abhängigkeit begeben zu haben, und es sei angesichts des Krieges zwar moralisch verwerflich, von Russland Energie zu beziehen. Aber Deutschland sei bis auf Weiteres auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen, denn wenn diese nicht fliessen würden, werde die deutsche Wirtschaft stark darunter leiden und es «wird zu Lieferengpässen kommen, zu Massenarbeitslosigkeit, zu Armut, zu Menschen, die ihre Wohnungen nicht mehr heizen können».

Abgesehen davon, dass man eine solche Aus­sage nicht machen darf, weil der Gegenspieler genau das hören will, ist sie auch nicht zu Ende gedacht. Denn mit jeder Woche Gas- und Öllieferung an Deutschland verdient Putin eine halbe Milliarde, und diese Mittel braucht er dingend zur Kriegsfinanzierung.

Notfalls ein wenig frieren – für die Freiheit

Der frühere deutsche Bundesprä­sident Joachim Gauck hat es richtig formuliert. Notfalls müsse man ein bisschen frieren, um die Freiheit in der Ukraine zu retten. Anders gesagt: Würde Deutschland ein einschneidendes Embargo verhängen, könnte Putin seinen Krieg nicht mehr finanzieren und er wäre gezwungen, für eine Lösung Hand zu bieten, bevor die deutsche Wirtschaft massiv darunter leiden würde.

Und die Schweiz? Selbstverständlich muss sie die Handelsdrehscheibe für Öl- und Gaslieferungen und die damit verbundenen Geldströme sofort stilllegen und die Vermögenswerte einfrieren, auch jene der russischen Oligarchen, denn sonst macht sie sich mitschuldig an der Finanzierung von Putins brutalem Krieg.

Es geht in diesem epochalen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie letztlich darum, ob Freiheit und Menschenrechte obsiegen oder Unterdrückung, Gewalt und Einsperrung. Die Schweiz ist militärisch neutral, sie darf aber politisch, ökonomisch und moralisch nicht neutral sein. Sie sollte sich solidarisch zeigen, Flüchtlinge aufnehmen und helfen, wo sie nur kann, indem sie zum Beispiel Schutzwesten liefert, Hilfsgüter, Medikamente und mobile Spitaleinrichtungen. Ja, es steht viel, sehr viel auf dem Spiel.