Ex-«SonntagsBlick»- und «Le Matin»-Chefredaktor Peter Rothenbühler ist schweiz-französischer Doppelbürger und Kenner der französischen Medienlandschaft. Er sagt: «Die verstorbenen Zeichner würden staunen, wenn sie erlebten, was jetzt geschieht.»
«Nous sommes tous Charlie» – wir sind alle Charlie, tönt es jetzt in ganz Frankreich. Die spontane, landesweite Solidarisierung mit «Charlie Hebdo» und seinen ermordeten Zeichnern ist enorm, aber in diesem Ausmass auch ein bisschen überraschend. Denn das Satireblatt war nicht mehr so beliebt, befand sich auf dem absteigenden Ast, man sprach schon von Konkurs. Als vor vier Jahren ein Brandanschlag auf «Charlie Hebdo» ausgeübt wurde, allerdings ohne Verletzte, hiess es hüben und drüben noch recht zynisch: Das kommt davon.
Wenn sich nun die Franzosen über alle politischen Grenzen alle Charlie nennen, geht es ihnen auch um das Satireblatt und seine ermordeten Zeichner, aber noch um viel mehr. Sie haben gespürt, dass dieses Attentat eine ganz besondere, fast historische Bedeutung für Frankreich hat: Kein anderer Anschlag hat je so viele Todesopfer gekostet. Und noch nie waren so viel prominente Persönlichkeiten betroffen. Und die Tat wurde wie ein kriegerisches Kommando ausgeführt, gezielt gegen Intellektuelle, gegen Künstler, mitten in der Hauptstadt der Aufklärung.
Der Philosoph Michel Onfray hat den Schock mit dem des 11. September 2001 in Amerika verglichen: Das ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Liberté, Fraternité, Égalité sind die Prinzipien der Republik: Um die zwei letzteren steht es zurzeit eher schlecht. Wenn auch die Freiheit bedroht ist, geht es ans Eingemachte. Freiheit heisst vor allem Meinungsfreiheit. Und zwar im Sinn von Voltaire: Ich bin zwar nicht mit Ihnen einverstanden, aber ich werde dafür kämpfen, dass Sie das Recht haben, Ihre Meinung auszudrücken.
Das gilt in Frankreich auch für den Humor, der weltweit einzigartig ist: frech, bissig, überspitzt, oft unter der Gürtellinie und brillant gezeichnet. Kein Schweizer Politiker würde tolerieren, was sich französische Präsidenten oder die katholischen Würdenträger von den Karikaturisten gefallen lassen müssen. In Frankreich gilt die Devise: Im öffentlichen Diskurs ist nichts heilig, man darf über alles lachen. Das Sakrale gehört in den Privatbereich. Gerade diese Woche hat der Europäische Gerichtshof das französische Burkaverbot von 2011 als rechtens bestätigt.
Französische Satire hat Tradition, Ende des 19. Jahrhunderts zählte das Land 200 Karikaturenblätter, Zeichner wie Grandville oder Daumier sind in die Kunstgeschichte eingegangen. Beim berühmtesten Blatt «Assiette au Beurre» haben auch die Schweizer Félix Vallotton und Théophile-Alexandre Steinlen massgebend mitgewirkt. In den revolutionären 1960ern wurde die Satire-Zeitschrift Hara Kiri gegründet, die schon bald wegen eines faulen Witzes zum Tod von Charles de Gaulle verboten wurde, aber eine Woche später unter dem neuen Namen «Charlie Hebdo» wieder auferstand, eine satirische Hommage an de Gaulle.
Die wechselhafte Geschichte von «Charlie» war bis heute geprägt von zahlreichen Strafklagen (mit ebenso zahlreichen Freisprüchen), aber auch von internen Krächen. Der prominente Zeichner Siné wurde vom Chefredaktor des Antisemitismus beschuldigt und gründete das Konkurrenzblatt «Siné Hebdo».
Leider fanden sich gerade in den letzten Jahren nicht mehr ausnehmend viele Leser, die mitlachen mochten: Am «dankbarsten» waren noch die Islamisten, wenn man das so sagen darf, die Einzigen, die sich über Humor zu ihren Lasten noch mordsmässig aufregen können. Legendär ist die Titelbild-Karikatur vom Propheten, der den Kopf in die Hände nimmt und stöhnt: «Es ist schon hart, von so vielen Idioten geliebt zu werden».
Die verstorbenen Zeichner Wolinski, Charb, Cabu, Tignous würden staunen, wenn sie erlebten, was jetzt geschieht: Sie würden sich vielleicht fragen, was haben wir nur falsch gemacht, dass uns alle plötzlich so gerne haben? Nun: Das Attentat hat die Nation wachgerüttelt, vielleicht hat es auch «Charlie» zu neuem Leben verholfen. Sein unverschämter Humor wird vielleicht wieder Kult? Schön wärs. Lang lebe Charlie!
Peter Rothenbühler Der Journalist und Editorial Designer war Chefredaktor von «SonntagsBlick», «Schweizer Illustrierte» und «Le Matin». Er lebt in Lausanne und Paris.