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In Woche 92 reist Thomas Schlittler von San Salvador (El Salvador) nach León (Nicaragua).
Meine Freundin Lea hat Tränen in den Augen, als wir im Süden El Salvadors bei David aus dem Auto steigen. Wir waren zwar nur eine halbe Stunde lang mit dem 24-Jährigen unterwegs, aber die kurze Zeit hatte es in sich: „Am Anfang bringt er kaum ein Wort heraus, weil er so scheu ist, und am Ende singt er emotionsgeladen Lieder für uns. Unglaublich!“, fasst Lea die magische Autostopp-Begegnung zusammen.
Ich habe kaum etwas verstanden von dem, was David uns vorgesungen hat. Auch um Davids selbst komponierte Songs zu verstehen, die er auf seinem Smartphone abspielt, reichen mein Spanischkenntnisse nicht aus. Aber trotzdem klingt für mich jedes einzelne Wort, das aus ihm heraussprudelt, nach innerer Zerrissenheit, grossen Träumen und der Sehnsucht auf ein besseres Leben.
Meine Interpretation ist gewagt, ich weiss. Vielleicht handeln Davids Lieder auch von Frauen, Sex und fetten Schlitten. Aber meine Mutmassungen kommen nicht von ungefähr. Denn ein paar Minuten vor seiner Gesangseinlage hat uns der schüchterne Salvadorianer eine heftige Episode aus seinem noch jungen Leben geschildert – seinen missglückten Fluchtversuch in die USA:
„Man hat mir gesagt, dass ich in der Grenzregion drei Tage lang zu Fuss durch die Wüste wandern müsse, um es in den USA auf sicheres Territorium zu schaffen. Soweit kam es aber gar nicht. Meine Gruppe hatte mit einem Boot soeben den Grenzfluss Rio Grande überquert, als wir von amerikanischen Grenzbeamten entdeckt wurden. Die Mitglieder meiner Gruppe sind in alle Richtungen davongerannt. Mich hat ein Polizist geschnappt und zu Boden gedrückt. Ich habe einen Ellbogen abgekriegt, das tat ziemlich weh. Dann musste ich für ein paar Wochen in ein Camp für illegale Einwanderer und wurde danach abgeschoben.“
David mit dem Gesicht im Dreck und über ihm ein amerikanischer Grenzpolizist – ich kann mir dieses Bild kaum vorstellen, wenn er jetzt so vor mir sitzt mit seinen Pausbäckchen und dem grün-weiss-rot-karierten Hemd. Zudem erzählt er das Erlebte so staubtrocken und mit leiser Stimme, als sei es die normalste Sache der Welt.
Wir sind in den letzten Autostopp-Wochen in Mittelamerika auch schon mit Leuten in Kontakt gekommen, die ihre Reise ins „gelobte Land“ gerade erst begonnen hatten. Als wir zum Beispiel nahe der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze auf eine Mitfahrgelegenheit warten, spricht uns einer an: „Hey guys, how are you doing?“ Der junge Mann mit dem perfekten amerikanischen Slang hat die letzten Jahre illegal in den USA gelebt, wurde vor ein paar Monaten aber in sein Heimatland El Salvador abgeschoben – jetzt ist er wieder auf dem Weg zurück in die Staaten. „Was soll ich sonst tun?“, fragt er uns, „in El Salvador habe ich doch keine Perspektive.“
Wir bohren nicht weiter. Und auch bei David sparen wir uns die Frage nach dem Warum. Die Armut und wirtschaftlichen Probleme El Salvadors sind unübersehbar, besonders auf dem Land. Hinzu kommt die hohe Kriminalitätsrate: Gemäss dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung gibt es in El Salvador 64,2 Tötungsdelikte pro 100'000 Einwohner. Damit steht das 6,4-Millionen-Einwohner-Land weltweit auf Platz 2 – nur im nördlichen Nachbarstaat Honduras (84,6) ist die Mordrate noch höher. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt die Quote bei 0,5.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist 3144 Kilometer lang, das entspricht in etwa der Strecke von Rom nach Moskau. David glaubt daran, dass er da ein Schlupfloch finden wird, er hat seinen Traum vom Leben in den USA noch nicht aufgegeben: „Ich werde es erneut versuchen.“
David hat einem „Kojoten“, wie die Schmuggler genannt werden, 7000 Dollar bezahlt. „Dafür habe ich drei Versuche, um es in die USA zu schaffen.“ Falls die Grenzüberquerung beim nächsten Mal gelingt, weiss David, wer seine erste Anlaufstelle ist: seine Schwester, die es bereits in die USA geschafft hat. „Ihr Mann hat einen guten Job gefunden. Er kann mir vielleicht helfen, ebenfalls eine Arbeit zu finden.“
Grosse Ansprüche an seine zukünftige Arbeitsstelle in den USA hat David nicht. Wie so viele träumt er zwar von einer Karriere als Musiker, wenn das aber nicht klappt, ist er auch bereit, jeden anderen Job zu machen. Das beweist er bereits in El Salvador: Im Moment benutzt er das Mikrofon nämlich nicht, um seine Songs zum Besten zu geben, sondern um in Städten und Dörfern die Aktionspreise einer Supermarkkette zu verkünden.