Kommentar
Europawahlen: Eine Zersplitterung wie in der Schweiz

Die EU-Skeptiker haben zugelegt, die Volksparteien haben eine Schrumpfkur erlitten. Trotzdem bleibt noch immer eine starke proeuropäische Mehrheit in der Mitte, schreibt Brüssel-Korrespondent Remo Hess über die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen.

Remo Hess, Brüssel
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Remo Hess, Brüssel-Korrespondent

Remo Hess, Brüssel-Korrespondent

Es sei nichts weniger als eine «Schicksalswahl», warnten die Politiker mit Blick auf die EU-Parlamentswahlen. Nationalistische Parteien riefen zum Sturm auf Brüssel. Ihre aufgeschreckten Gegner organisierten den Abwehrkampf. «Jetzt oder nie», lautete das Motto beiderseits. Und es stimmt: Die Frage, wie es mit der EU weitergehen soll, hat die Menschen wohl so beschäftigt wie kaum je. Die Mehrfach-Krise – Euro, Migration, Brexit – hat mobilisiert. Das zeigt der Anstieg der Stimmbeteiligung nach Jahrzehnten des Niedergangs.

Allerdings ist die Ausrufung der Existenz-Frage übertrieben. Ja, die EU-Skeptiker haben zugelegt. Und ja, die Volksparteien haben eine Schrumpfkur erlitten. Trotzdem bleibt noch immer eine starke proeuropäische Mehrheit in der Mitte. Statt der althergebrachten «Grossen Koalition» besteht sie mit Grünen und Liberalen nun einfach aus vier statt zwei Parteien. Eine Zersplitterung also – aus Schweizer Sicht längst Normalität.

Davon abgesehen muss man festhalten: Der Begriff «Europa-Wahl» hält nicht, was er verspricht. Gewählt wurde hier nicht ein neues Europa, sondern bloss ein neues Europaparlament. Bei aller Gestaltungskraft, die die 751 Abgeordneten zum Beispiel in Fragen des Binnenmarkts haben: Geht es um EU-Kernthemen wie den Euro, Migration oder Besteuerung, dann hockt die Macht nicht im EU-Parlament, sondern bei den Regierungen. Insofern ist jede nationale Wahl vielmehr eine EU-Schicksalswahl. Die Zukunft der Europäischen Union entscheidet sich nicht in Brüssel, sondern in den Nationalstaaten.