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Erziehungsexperten sagen, es brauche in der Jugendzeit ein Mindestmass an Revolution. Gilt das auch in der heutigen Zeit, in der viele Kinder und Jugendliche als überangepasst gelten?
Der 18. Geburtstag meiner Söhne liegt zum Glück noch weit entfernt. Und damit auch ihr Stimm- und Wahlrecht. Und doch finde ich es spannend, mir auszumalen, wie ihre Sicht auf die Welt in ein paar Jahren wohl aussieht. Werden sie als Teenager für mehr Umwelt- und Klimaschutz auf die Strasse gehen oder stramm SVP wählen oder sich für Politik überhaupt nicht interessieren?
Auch wenn wir am Mittagstisch manchmal über Trump, den Bundesrat, die Coronamassnahmen oder irgendeinen St. Galler Stadtrat diskutieren, der gerade von einer Plakatwand lächelt, heisst das noch lange nicht, dass sie dereinst die gleichen Wertvorstellungen teilen, wie ich sie für richtig halte. Gut möglich sogar, dass sie einmal zu ganz anderen Ansichten gelangen. Zumindest als Jugendliche oder junge Erwachsene.
Denn es gehört zu den Binsenwahrheiten der menschlichen Entwicklung, dass sich Kinder irgendwann von ihren Eltern abgrenzen - auch in ihrer Sicht auf die Welt. Das ist oft sogar ein Meilenstein auf dem Weg zu einer eigenen Persönlichkeit.
Erziehungsexperten meinen gar, dass es auch bei den politischen Ansichten ein Mindestmass an Rebellion braucht, um erwachsen zu werden. Für die Eltern ist dieser Prozess zuweilen schmerzhaft, weil natürlich niemand gerne sein eigenes Weltbild infrage gestellt sieht, schon gar nicht von den eigenen Kindern.
Beispiele dafür gibt es genug. In dem Thurgauer Dorf, in dem ich aufwuchs und wo in der Schule praktisch die gesamte Klasse aus Handwerker-, Bauern- oder Wirtefamilien stammte, haben die meisten Eltern FDP oder vor allem SVP gewählt. Nicht wenige meiner einstigen Gspänli dürften sich heute wohl irgendwo in der Mitte oder links davon verorten. Sie zogen in die weite Welt oder zumindest in die nächst gelegene grössere Stadt und kamen zu teils anderen Ansichten.
Das Gegenbeispiel gab es auf dem Gymnasium. Der Mitschüler, der als Rechtsanwalt die steilste Berufskarriere hinlegte und heute wohl am meisten Geld von allen Klassenkameraden verdient, stammt aus einer SP nahen Familie.
Und auch bei unseren Freunden, die auf eine vegane Ernährung schwören, bin ich mir nicht sicher, ob die Kinder in einigen Jahren nicht mit Inbrunst doppelte Cheeseburger bei McDonalds verzehren. Als Abgrenzung gegenüber den Wertvorstellungen, die zu Hause jahrelang als richtig galten und aus denen es aus ihrer Sicht vielleicht lange Zeit kein Entkommen gab.
Diese persönlichen Erfahrungen stehen im Widerspruch zum Bild der heutigen Jugend, die Soziologen als «angepasst, apolitisch, brav und konsumorientiert» beschreiben - wenn sie nicht gerade mit Molotow-Cocktails in der St. Galler Innenstadt hantiert. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Denn glaubt man Umfragen, gilt es für Jugendliche überhaupt nicht mehr als uncool, sich mit seinen Eltern gut zu verstehen.
Beeindruckend sind Zahlen aus Deutschland, wie sie vor ein paar Jahren die«Frankfurter Allgemeine Zeitung» präsentierte: Mehr als die Hälfte der jungen Erwachsenen telefoniert teils mehrmals wöchentlich mit den Eltern. Seit 1980 hat sich die Zahl der jungen Leute verdoppelt, die als 25-Jährige noch zu Hause wohnen. Und seit den 1980er Jahren ist der Anteil der jungen Leute, die ihre Kinder so erziehen wollen, wie sie von ihren Eltern erzogen wurden, von 50 auf 73 Prozent gestiegen. Von Revolution keine Spur.
Generell orten Soziologen und Psychologen in westlichen Ländern einen tiefgreifenden Wandel in den Eltern-Kind-Beziehungen. Diese sind, so der Befund, emotionaler und weniger autoritär geworden. Auch die politischen Ansichten sind wahrscheinlich in vielen Elternhäusern nicht mehr so dogmatisch wie einst in den 1980er Jahren im Kalten Krieg, als zumindest politisch klar war, wo Gut und Böse lagen. Das verbessert möglicherweise die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern und senkt wohl auch die Wahrscheinlichkeit einer Rebellion.
Das ist die positive Seite der Medaille. Doch an der grundsätzlichen Ausgangslage ändert dies nicht. Es gehört wohl zu den grössten Aufgaben des Eltern-Seins, die Kinder loszulassen, ihnen die besten Bedingungen zu schaffen für ein selbstbestimmtes Leben. Und dazu gehört es, dass sie sich zuweilen an von den Eltern oder der Gesellschaft vorgegebenen Normen reiben müssen, um einen eigenen Weg zu finden.
Es gibt nichts Langweiligeres, als Blasen und Familien in denen alle das Gleiche denken, nie eine Meinung herausgefordert wird und jedem von vornherein klar ist, was richtig und falsch ist. Schliesslich ist die Welt viel bunter, tiefer und differenzierter, als dass sie sich in ein dogmatisches links-rechts und Gut-und-Böse-Schema pressen liesse.
Jürg Ackermann lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen (9 und 7) in St. Gallen.