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Meinung
Die junge Kunstturnerin, die ihren Trainer der sexuellen Übergriffe beschuldigt, beendet ihre Karriere. In Wil wurde wenig getan, um die Athletin zu schützen. Und der nächste Skandal kommt bestimmt.
Der Spitzensport ist hart. Er verlangt allen Beteiligten Opfer ab. Im Falle einer jungen Kunstturnerin, welche die vergangenen zehn Jahre ihres Lebens pickelharten Trainingsplänen, dem Verzicht und grenzenloser Disziplin untergeordnet hat, um den Traum einer Spitzensportkarriere wahr werden zu lassen, ist der Spitzensport nicht nur hart: Er ist auch unfair. Das knallharte Business, das dahintersteckt, ist stärker als ihr Mut. Der Mut, den sie brauchte, um den Trainer anzuzeigen, wird nun bestraft. Der Trainer, der wie ein Vater für sie war, jedoch die Grenzen ihrer sexuellen Integrität massiv überschritten haben soll, als sie noch minderjährig war.
Das Regionale Leistungszentrum Ostschweiz (RLZO) in Wil zeigte von Anfang an wenig Verständnis für die Turnerin. Zwar liess der Vorstand im Sommer nach Bekanntwerden der Vorwürfe und der Verhaftung des damaligen Cheftrainers verlauten, man halte das mutmassliche Opfer für glaubwürdig. Doch getan wurde in Wil wenig, um die Athletin zu schützen. Vor Anfeindungen, vor offenen Vorwürfen seitens Eltern und anderer Trainer, die dem mittlerweile gekündigten Trainer die Stange hielten.
Eine Sportpsychologin erklärte die Vorgänge für typisch für den Leistungssport und sein unbarmherziges Umfeld: Die Karriere des eigenen Kindes geht immer vor. Und wenn eine andere Turnerin diese in Gefahr bringt, brechen anscheinend bei manchen die Dämme. Das Recht darauf, ernst genommen und geschützt zu werden, wie es einem mutmasslichen Sexualopfer zustehen müsste, existiert dann offensichtlich nicht mehr.
Dass die Führungsriege des krisengeschüttelten Zentrums es nicht geschafft hat, auch nur bis zur Klärung der juristischen Fragen den Anschein zu wahren, man nehme die Vorwürfe des mutmasslichen Opfers ernst, ist eine Bankrotterklärung. Für das Leistungszentrum, aber auch für die Kunstturnszene in der Ostschweiz. Man kommt nicht umhin, die Professionalität der Verantwortlichen anzuzweifeln, wenn man der Turnerin allen Ernstes die Ehefrau ihres fleischgewordenen Albtraums als neue Cheftrainerin vor die Nase setzt.
Der Verdacht liegt nahe, dass man in Wil einkalkuliert hatte, die Turnerin auf diese Weise möglichst schnell loszuwerden. Die Stillosigkeit zeigt auf, wo das Milizsystem, auf dem das schweizerische Turnwesen aufgebaut ist, an seine Grenzen stösst. Professionelle Strukturen in einer Sportart, wo Vertrauen und gute Beziehungen zwischen Trainer und oft minderjährigen Sportlerinnen die Pfeiler des Erfolgs bilden, sind das nicht. Im Gegenteil. Die Vorgänge lassen wenig Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit zu einem Neuanfang in der Ostschweizer Kunstturnszene kommt. Der nächste Skandal folgt bestimmt.