Diskussion mit Journalistenkollegen im Bundeshaus-Café «Vallotton». Wir reden darüber, wie sich die Schweiz in den letzten vier Jahren verändert hat. Die Legislatur begann mit der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat und endete mit dem Atom-Ausstieg und mit strengen Grossbankenregeln. «Die Schweiz ist nach links gerückt», bilanziert darum ein Kollege. Ist sie das wirklich? Haben sich die Gewichte im bürgerlichsten Land Europas nach links verschoben?
Blickt man zurück, stellt man erst einmal fest, dass die stabile Schweiz in der Personal- wie in der Sachpolitik in den letzten vier Jahren ungewohnte Erschütterungen erfahren hat. Es gab nicht nur die Blocher-Abwahl, sondern fünf weitere Bundesratsrücktritte (Samuel Schmid, Pascal Couchepin, Hans-Rudolf Merz, Moritz Leuenberger und den angekündigten Abgang von Micheline Calmy-Rey). Wahrscheinlich kam es noch nie vor, dass nach einer Legislatur nur gerade ein Bundesratsmitglied noch dasselbe ist (Doris Leuthard).
Inhaltlich resultierten derart tief greifende Umwälzungen, wie sie sonst höchstens im Jahrzehnte-Rhythmus geschehen. Noch Anfang 2009 sagte Finanzminister Merz, das Ausland werde sich «am Bankgeheimnis die Zähne ausbeissen». Inzwischen ist es gegenüber Amerika faktisch aufgehoben und gegenüber Deutschland und England mit den neuen Doppelbesteuerungsabkommen arg durchlöchert. Noch einschneidender ist der Teil-Beitritt zur EU: Die Aussengrenze ist gefallen, die Personenfreizügigkeit gilt – mit dem Plazet des Volkes – sogar für die neuen EU-Länder Rumänien und Bulgarien. Mit zweierlei Folgen: Mehr Wirtschaftswachstum, mehr Arbeitsplätze – aber auch zunehmendes Unwohlsein über den gewaltigen Zustrom von Einwanderern.
In zentralen und ideologisch verminten Feldern hat sich die Politik neu ausgerichtet. Die bürgerliche Mitte mit CVP-Bundesrätin Doris Leuthard an der Spitze hat den Atomausstieg durchgesetzt – das Bekenntnis zu AKW war vor Fukushima bei den Bürgerlichen noch Grundvoraussetzung für eine Karriere. Genauso wie das Bekenntnis zum Bankgeheimnis. Hier waren es die einstigen Bankgeheimnis-Parteien SVP, FDP und CVP, welche die heilige Kuh gemeinsam schlachteten, indem sie den Staatsvertrag mit den USA zur Rettung der UBS durchs Parlament drückten.
Hat die bürgerliche Schweiz ihre Prinzipien über Bord geworfen? Vielleicht lässt sich die Frage mit Angela Merkel beantworten. Die deutsche Kanzlerin wurde im ARD-Talk von Günter Jauch gefragt, warum sie heute bei vielen Themen eine andere Haltung vertrete als früher. Merkel lapidar: «Sie können doch nicht
an allem festhalten, wenn sich die Welt komplett verändert hat.»
Die Schweiz ist nicht nach links gerückt. Entscheidend ist etwas anderes: Bundesrat und Parlament haben die Politik als Gestaltungskraft wiederentdeckt. Die Linken schworen schon immer darauf, neuerdings auch die Bürgerlichen – aus der schmerzlichen Einsicht heraus, dass Märkte und Selbstregulierung viele Probleme eben doch nicht lösen. Sogar Erfolge der Rechten im Parlament lassen sich so erklären: die Erhöhung des Armeebudgets und neue Restriktionen in der Ausländerpolitik.
Die Politik muss ran! So lautete die Losung der letzten vier Jahre. Schriftsteller Peter Bichsel schrieb in den 90ern, die Schweiz sei kein Staat, sondern bloss ein Land. Nun aber sind wir zum Staat geworden.
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