Glosse
Das Engadinerschaf – ein Lichtblick in unserer krisengeschüttelten Welt

Die Grünerle breitet sich in den Alpen unkontrolliert aus. Nun soll das Engadinerschaf der expansiven Pflanze den Garaus machen. Und so die Alpen vor der Verbuschung retten.

Kari Kälin
Kari Kälin
Drucken
Zwei Engadinerschafe auf der Alp Gamsboden im Kanton Uri.

Zwei Engadinerschafe auf der Alp Gamsboden im Kanton Uri.

Bild: Christian Gazzarin

Zuerst Corona, dann der Ukraine-Krieg, und als ewiges Damoklesschwert der Klimawandel, der scharenweise junge Menschen in Depressionen stürzt. Wir schwimmen in einem Ozean von schlechten bis katastrophalen Nachrichten. Doch jetzt sorgt Agroscope für einen Lichtstrahl.

Das selten Aufsehen erregende Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung wartet in seiner jüngsten Medienmitteilung zwar zunächst mit schlechten Neuigkeiten auf: Auf den Schweizer Alpen hat das Gebüsch eine Fläche in der Grösse des Kantons Schaffhausen zugedeckt. Einfach überwuchert, zum Verschwinden gebracht.

Der Verbuschungssünder und Biodiversität-Killer Nummer eins ist die Grünerle. Sie kann Stickstoff am besten ausnützen und andere Pflanzen verdrängen. Sie unterdrückt den Berg, reduziert das Weideland und ist obendrein ein unästhetisches Geschöpf der Natur: Die empirische Forschung belegt nämlich, dass die meisten Menschen offene Weiden attraktiver finden als verbuschte Alpen. Was hilft gegen die expansive Grünerle, die nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch dem Tourismus schadet? Rabiate Methoden wie kurzerhand die Büsche abhacken versprechen wenig Erfolg.

In einem Artikel in der «Zeitschrift für Ernährungsmedizin» schreibt Erika Hiltbrunner vom Botanischen Institut der Universität Basel: «Schlägt man der ‹Hydra› den Kopf ab, wachsen ihr beziehungsweise der Grünerle zehn Köpfe nach, weil alle schlafenden Knospen der Grünerle austreiben.» Stattdessen bietet das robuste Engadinerschaf einen Mehrwert, weil es bei der Grünerle Rinde abknabbert; der kulinarische Horizont von konventionellen Schafen hingegen endet beim Gras.

Schafe als «biologische Waffe gegen die Verbuschung»

Forscherinnen und Forscher von Agroscope und der ETH Zürich bestätigen nun: Die Engadinerschafe, vor kurzem noch vor dem Aussterben bedroht, sind eine höchst effektive biologische Waffe gegen die Verbuschung der Alpen. Sie zeigten «eine ausserordentliche Vorliebe für die Rinde der Grünerle».

Auf einer Alp im Engadin, gelegen 2000 Meter über Meer, rüsteten die Wissenschafter Engadinerschafe, Ziegen und Rinder mit GPS-Halsbändern aus. Nicht als Landschaftspfleger, so das Ergebnis der digitalen Überwachung, eignen sich die Rinder. Sie fressen zwar Grünerlen-Blätter und zertrampeln junge Sträucher, doch beim entscheidenden Schritt – der Eindämmung der Grünerlen – scheitern sie: Rinder können die Rinde nicht abschälen. Zudem trotten sie lediglich an die Gebüschränder und machen es sich auf der Wiese gemütlich.

Engadinerschafe, diese widerstandsfähigen und langlebigen Gesellen mit herunterlampenden Ohren, sowie Ziegen dringen hingegen tief ins Grünerlengebüsch hinein – wobei die Schafe die Grünerle noch besser eindämmen als die Ziegen.

Das ist insofern relevant, als sich die Schafhaltung besser lohnt: Denn Menschen in der Schweiz essen lieber Schaf- als Ziegenfleisch. Ein weiterer ökonomischer Anreiz spricht für das hoch wirksame Engadinerschaf: Werden Problempflanzen nicht reguliert, können Direktzahlungen reduziert werden. Das Fazit: Die Welt ist nicht verloren. Zumindest auf den Alpen. Wo das Engadinerschaf Grünerlen den Garaus macht.