Die Injektion vom 9. Februar

Man kann vom Volksentscheid zur Masseneinwanderungsinitiative halten, was man will, eines hat er erreicht: Er hat die helvetische Politik aus ihrem Tiefschlaf geweckt. Endlich wird über die wichtigen Themen diskutiert, über die grossen Zukunftsfragen gestritten – die Rolle der Schweiz in Europa, das richtige Mass an Wirtschaftswachstum und Einwanderung, die Standortpolitik.

Patrik Müller
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Es findet eine bemerkenswerte Repolitisierung statt. Die Injektion vom 9. Februar wirkt, mit einer Latenzzeit von acht Monaten, auch bei Schwergewichten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die sich im Verlauf der 90er-Jahre schleichend aus der politischen Arena verabschiedet haben. Das ist gut. Vor zehn Tagen trat Hansjörg Wyss an die Öffentlichkeit. Der Ex-Synthes-Unternehmer warnte, die Schweiz verbaue sich mit ihrem Abseitsstehen in Europa ihre Zukunft. Und jetzt lancieren über 100 namhafte Persönlichkeiten – sie nennen sich «besorgte Bürger» – einen Pro-Europa-Aufruf.
Darin schreiben sie, sie seien «tief besorgt über die Verwirrung, in die die Politik der Schweiz gegenüber ihren europäischen Partnern geraten ist». Was ist von dem Aufruf zu halten? Zunächst enthält er viele Aussagen, denen kaum jemand widersprechen wird: Ja, die wirtschaftliche Vernetzung mit Europa ist für unsere Unternehmen zentral. Und was die EU für den Frieden auf unserem Kontinent geleistet hat, ist tatsächlich von historischem Wert.
Zur entscheidenden Frage aber, dem Verhältnis der Schweiz zur EU, bleibt das Manifest vage. Das geht wohl nicht anders, wenn ein linker Soziologe wie Kurt Imhof und ein kapitalistischer Banker wie Patrick Odier ein und denselben Text unterzeichnen. Was sie eint, ist ihre Unzufriedenheit mit der «Selbstisolierung» der Schweiz, wie sie es nennen. Auch über diese Diagnose kann man sich indes streiten; immerhin ist unser Land wirtschaftlich und kulturell hervorragend in Europa integriert und hat eine der höchsten Einwandererquoten.
Zur EU-Frage heisst es im Appell: «Den Beitritt zur EU a priori und für immer aus den europapolitischen Debatten zu verbannen, wäre töricht und gefährlich, denn letztlich kann nur die volle Mitwirkung der Schweiz jenen Einfluss (...) geben, der dem Gewicht des Landes entspricht.» Ich bin gegen den EU-Beitritt und für Zuwanderungsbeschränkungen, aber als Demokrat kann man sich nur wünschen, dass alle Optionen ohne Scheuklappen diskutiert werden: Alleingang ohne bilaterale Verträge, Weiterentwicklung der bilateralen Verträge, Neuauflage des EWR – und eben Beitritt zur EU.
Die nächste europapolitische Weichenstellung erfolgt spätestens im November 2016, dann kommt die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative an die Urne. Appelle allein werden nicht reichen, wenn das Votum im Sinn der Öffnung ausfallen soll: Wollen die Pro-Europäer eine Wende herbeiführen, dürfen sie nicht nur ihre eigenen Sorgen artikulieren, sondern sie müssen vor allem auf die Sorgen eingehen, die 50,3 Prozent der Stimmbürger am 9. Februar geäussert haben.
Davon sind viele weit entfernt. Es ist nicht hilfreich, wenn Multimilliardär Hansjörg Wyss sagt, die Schweizer würden «Rattenfängern» auf den Leim kriechen, wenn Salonjournalist Daniel Binswanger im «Magazin» beklagt, das Volk sei «irregeleitet», oder wenn Philosophin Katja Gentinetta in der «Zeit» die Losung herausgibt: «Wer nicht gegen die SVP ist, ist für sie.» Solche Parolen scheiterten schon 1992, und sie verhalfen, nebenbei, der SVP zum Aufstieg.
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