Der Kinofilm «Le silence de Lorna» thematisiert die Schattenseiten der europäischen Ausländerpolitik: Die auf Figuren am Rand der Gesellschaft spezialisierten Regiebrüder Luc und Jean Pierre Dardenne erzählen von den verzweifelten Versuchen einer jungen Albanerin, in Belgien ein würdiges Leben zu führen. Geri Krebs
Lorna (Arta Dobroshi) steht zwischen drei Männern. Sokol (Alban Ukaj) ist ihr Freund und – ferner – Lebenspartner, er hat keine Aufenthaltserlaubnis für Belgien, aber mit ihm zusammen möchte Lorna in der Stadt Lüttich eine eigene Snackbar eröffnen. Dann ist da Claudy (Jérémie Renier), der belgische Junkie, den sie geheiratet hat zwecks Erlangung der belgischen Staatsbürgerschaft, und der sich durch das – zwangsweise – Zusammenleben mit Lorna jene Stabilität in seinem Leben erhofft, um von den Drogen wegzukommen. Und schliesslich ist da noch Fabio (Fabrizio Rongione), der Taxifahrer und Mafia-Gehilfe. Er hat die Scheinehe von Lorna arrangiert, und er steht in den Diensten einer Gruppe russischer Mafiosi, die einen teuflischen Plan hegen: Claudy soll aus dem Weg geräumt werden; am besten so, dass es nach Überdosis aussieht. Und Lorna, nun Witwe mit belgischer Staatsbürgerschaft, soll daraufhin Andrei, den russischen Mafia-Boss, heiraten.
Am Anfang von «Le silence de Lorna» sieht man die dreissigjährige Protagonistin bei einer Finanztransaktion und Verhandlungen mit einer Bankangestellten, es fällt der Satz: «Ich werde ja bald Belgierin sein.» Daraufhin steht Lorna in der Telefonkabine eines öffentlichen Sprechzentrums, sie lächelt, sie spricht mit Sokol, um sie herum erstrahlen die Wände in Farben, die fröhlich, bunt und wie nicht von dieser Welt erscheinen. Denn die Realität von Lorna ist eine andere: Sie lebt in einer engen kleinen Wohnung mit Claudy zusammen, und dieser klammert sich an sie wie ein verzweifeltes Kind. Er möchte wissen, wann sie am nächsten Tag nach Hause kommt von ihrer Arbeit in einer Wäscherei, denn er möchte gerne kochen für beide – damit er eine minimale Tagesstruktur hat, die ihm dabei hilft, nicht mehr den Drogen nachzurennen.
Doch Lorna ist abweisend, kalt, sie möchte nur ihre Ruhe haben, und man merkt ihr an, wie sehr ihr alles zu viel ist. Fast physisch spürt man als Zuschauer den ungeheuren Stress, dem sie ausgesetzt ist. Und als sie einige Szenen später mit ihrem Freund Sokol kurz zusammen sein kann, findet dieser bezüglich des Claudy zugedachten Schicksals nur: «Er ist doch bloss ein Junkie.»
Eine ähnlich mörderische Logik vertrat gut drei Jahre zuvor der sein Baby verkaufende Kleinganove Bruno in «L'enfant», dem vorherigen Film der Dardennes, mit dem die belgischen Brüder 2005 in Cannes die goldene Palme gewonnen hatten – bereits zum zweitenmal, denn schon 1999 hatten sie jene höchste Auszeichnung mit «Rosetta» geholt, einem Drama um ein Mädchen mit einer Alkoholikermutter. In «L'enfant» verkörperte Jérémie Renier, der im neuen Film den Junkie spielt, den Part des Bruno, der arglos meint: «Es ist doch nur ein Baby, wir können doch wieder eines machen.» Und in «La promesse» von 1996, jenem Film der Gebrüder Dardenne, mit dem sie den internationalen Durchbruch schafften, spielte er den halbwüchsigen Sohn eines miesen belgischen Sklaventreibers, der versucht, den Unfalltod eines seiner afrikanischen Schwarzarbeiter nach Kräften zu vertuschen.
Es sind meistens Plots, die auf den ersten Blick auch einem amerikanischen B-Picture-Movie der 1950er- oder 1960er-Jahre entsprungen zu sein scheinen, mit denen Luc und Jean Pierre Dardenne arbeiten. Doch die spröde und strenge Art, mit der sie inszenieren, das Fehlen jeglichen Glamours bei den Ganoven, die ungemein genaue Kameraarbeit von Alain Marcoen (der seit 1987 in jedem Film mitwirkt), lassen Filme entstehen, die zwar atemlos spannend, aber dennoch so etwa das extremste Gegenteil eines billigen Krimis darstellen. «Doch, doch», versicherten die beiden Brüder bei einem Gespräch im vergangenen Juli, «wir haben uns in <Le silence de Lorna> erstmals bewusst an gewissen Elementen des Film Noir orientiert: Die Stadt, die Nacht, das Taxi, das Verbrechen, die Frau.»
Und dennoch: Die Geschichte um eine Frau, die durch eine unmenschliche Weltordnung in ein wahnsinniges Dilemma getrieben wird, ist in erster Linie eine scharfe Anklage gegen herrschende europäische Ausländerpolitik, vielleicht eine der schärfsten, die man seit langem im Kino gesehen hat.
Während fast zwanzig Jahren haben die beiden 1951 und 1954 geborenen Brüder Dardenne in ihrer Heimatstadt Seraing bei Lüttich sozial engagierte Dokumentarfilme über die Veränderungen in ihrer Heimat gedreht, die einst von der Kohleindustrie lebte. Es sind diese Quellen einer äusserst genauen und wahrhaftigen Beobachtung, aus denen sie auch heute noch schöpfen, da sie als Spielfilmregisseure längst an der Spitze europäischer Autorenfilmer angekommen sind.