Vor hundert Jahren erschien der «Tractatus». Geschrieben hat ihn Ludwig Wittgenstein teilweise während des Ersten Weltkriegs. Er war überzeugt, damit alle Probleme der Philosophie gelöst zu haben.
Man hat das schmale Büchlein des Philosophen Ludwig Wittgenstein, geboren 1889 in Wien, in gut vier Stunden gelesen – und kann sich ein Leben lang daran abmühen, ja regelrecht an ihm verzweifeln: der «Tractatus logico-philosophicus», kurz «Tractatus», vor hundert Jahren zum ersten Mal veröffentlicht und bis heute die Bibel der strengen Philosophie.
Darin stehen umwerfende Sätze wie «Die Welt ist alles, was der Fall ist» oder «Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt». Schon zu Lebzeiten Wittgensteins gingen die Meinungen über das Buch auseinander. Gottlob Frege, begnadeter Logiker und von Wittgenstein hochverehrt, soll gesagt haben, er verstünde vom «Tractatus» nicht eine einzige Zeile. Andere versetzte die Lektüre des Büchleins nachgerade in Ekstase, sie sprachen von der grössten Revolution in der gesamten abendländischen Philosophie.
Eine Revolution? Durchaus. Denn was Wittgenstein mit dem «Tractatus» im Sinn hatte, war nichts weniger, als alle philosophischen Probleme zu lösen– und zwar ein für alle Mal.
Wie soll das gehen? Die wenig dramatische Antwort lautet: mit Wittgensteins Unterscheidung zwischen sinnvollen Sätzen und sinnlosen. Erstere sind solche, die etwas in der Welt abbilden und mit Hilfe der Naturwissenschaften überprüft werden können.
Alle anderen Sätze sind zwar nicht zwingend widersinnig, aber sinnlos: Sie sind entweder offenkundig wahr (Tautologien wie «Es regnet oder es regnet nicht»), oder sie sind offenkundig falsch (Kontradiktionen wie «Hansi ist ein verheirateter Junggeselle») oder empirisch nicht überprüfbar (zum Beispiel Werturteile wie «Wittgenstein ist der grösste Philosoph aller Zeiten»). Diesen Sätzen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie sinnlos sind, da nicht empirisch überprüfbar. Und weil Philosophie, so Wittgenstein, keine Naturwissenschaft ist, sind von ihr eben auch keine sinnvollen Aussagen zu erwarten.
Das klingt schon eher nach Revolution. 2500 Jahre philosophische Theorien über Gott und die Welt, über den freien Willen, über Gut und Böse, über logische Formen und ästhetische Erfahrungen machen samt und sonders keinen Sinn. Wer sich, so Wittgenstein, redlich ans Werk macht und die Sprache hinterfragt, mit der er über all die Themen spricht – wer also nicht über Freiheit oder das Seiende spekuliert, sondern die Begriffe «Freiheit» und «seiend» analysiert –, der muss zwingend zu dieser Einsicht gelangen: Sinnvolles lässt sich in der Philosophie nicht aussagen. Deshalb, so Wittgenstein, sei die richtige Methode der Philosophie eigentlich, «nichts zu sagen».
Und damit hat es sich, meinte Wittgenstein. Im Vorwort zum «Tractatus» heisst es denn auch unbescheiden:
«Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben».
Daraufhin zog er sich – der Erste Weltkrieg neigte sich gerade dem Ende zu – aus der Philosophie zurück.
Die Jahre im Krieg hatten Wittgenstein verändert. Er war zwar aus Überzeugung an der Front, doch weniger aus patriotischen denn aus persönlichen Gründen; er wollte sich läutern. In sein Kriegstagebuch schrieb Wittgenstein den Satz: «Vielleicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens.» Trost bot ihm Tolstois Buch zum Evangelium, er trug es stets bei sich, «dieses herrliche Werk».
Schon damals dachte Wittgenstein oft an Suizid, er verzweifelte an seinem Unvermögen, die Fragen nach Sein und Sinn zu beantworten. Lieber wolle er sterben, als etwas nicht zu verstehen, soll Wittgenstein einmal zu David Pinsent gesagt haben, seinem engsten Freund und Liebhaber, der im Krieg fiel.
Zu jener Zeit dachte Wittgenstein – auch in den Schützengräben – wie besessen über das Verhältnis von Wirklichkeit, Logik und Sprache nach, viele dieser Notizen flossen später in den «Tractatus» ein. Dabei interessierte ihn weniger die Strenge seiner Analyse– für die er später berühmt und bewundert wurde – als vielmehr das, was seine Theorie nicht zu erfassen imstande war: das Mystische. «Der Trieb zum Mystischen kommt von der Unbefriedigtheit unserer Wünsche durch die Wissenschaft», schreibt Wittgenstein in sein Kriegstagebuch, und er fügt an:
«Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unser Problem noch gar nicht berührt ist.»
Ähnlich klingt es im Vorwort des «Tractatus»: Zwar sei er überzeugt, die Probleme der Philosophie gelöst zu haben, doch wusste Wittgenstein auch, «wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind». Am Ende blieb einem, als Philosoph, nur das Schweigen – die wohl berühmteste Passage im Tractatus lautet:
«Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.»
Das Unaussprechliche, davon war Wittgenstein zutiefst überzeugt, lässt sich nicht sagen, sondern nur zeigen – so eben das Religiöse, das Mystische. Philosophen wie Wittgensteins Lehrer und Mentor Bertrand Russell, die ihren Fokus einzig auf Logik und Wissenschaft richteten, mochten solche Aussagen, gelinde gesagt, befremden; für Wittgenstein jedoch waren sie zentral. Als Russell das Vorwort zum «Tractatus» beisteuern wollte, lehnte Wittgenstein mit den Worten ab: «Er versteht kein Wort von meiner Arbeit.»
Nach Erscheinen des «Tractatus» 1921 arbeitete Wittgenstein als Gärtner, Volksschullehrer und Architekt. Und gab sich mehr der Mystik hin als der Logik. Zu jener Zeit hatte er, der aus einer steinreichen Unternehmerfamilie stammte, bereits sein gesamtes Vermögen an mittellose Künstler wie Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Else Lasker-Schüler verschenkt.
Doch schon bald rumorte es wieder in ihm, dem ewig Unruhigen. Wittgenstein hegte Zweifel an der Richtigkeit seines «Tractatus». Und so kehrte er 1929 nach Cambridge ans philosophische Seminar zurück, wo ihn die Zunft ehrfürchtig erwartete: «Gott ist angekommen, ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug», schrieb der Mathematiker und Ökonom John Maynard Keynes in einem Brief an seine Frau.
Die Jahre darauf entwickelte Wittgenstein eine Theorie von Wirklichkeit und Sprache, die derjenigen im «Tractatus» diametral entgegengesetzt scheint: Wörter und Sätze haben nicht deshalb Bedeutung, weil sie die Welt abbilden, sondern weil sie von uns gebraucht werden, um Behauptungen aufzustellen, etwas mitzuteilen, um zu befehlen, zu drohen und vieles andere mehr. Unabhängig davon, ob etwas Sinnvolles oder Sinnloses gesagt wird, ist die Bedeutung von Sätzen untrennbar mit «Sprachspielen» verwoben, die ihrerseits Teil sind der Lebenswelten der Sprecherinnen und Sprecher.
Auch wenn sich Wittgenstein immer mehr von seinen Ansichten im «Tractatus» entfernte, er blieb seiner Überzeugung treu: Was auch immer wir denken über uns, die anderen, die Welt, wir können es nur innerhalb unserer Sprache denken; ein Denken jenseits der Sprache gibt es nicht, dort gibt es allenfalls so etwas wie religiöse Erfahrung. Deshalb ist für Wittgenstein Philosophie als Kritik des Denkens immer zuerst eine Kritik mit und an der Sprache. Und deshalb bedeuten die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt – ein Satz, der so übrigens schon im «Tractatus» steht.
In seinen letzten Jahren zog sich Wittgenstein zurück, er gab 1947 seine Stelle als Professor in Cambridge auf und verbrachte viele Monate in Norwegen, in einer Hütte unweit von Bergen; «um allein zu denken, ohne mit jemandem zu reden», wie er einem Freund erklärte. Und um zu beten. Noch mehr als nach der Klarheit der Gedanken und der Sprache trachtete Wittgenstein, wieder einmal, nach Läuterung, nach Erlösung. 1949 erkrankte er schwer, zwei Jahre später erlag er dem Prostatakrebs.
Auf dem Totenbett soll Wittgenstein gesagt haben: «Ich hatte ein glückliches Leben.» Nicht wenige hatten Zweifel an der Wahrheit seiner letzten Worte – so getrieben wie dieser Mann war, so oft er an den Tod dachte und sein Inneres sich verdunkelte, so streng und bisweilen unerträglich er zu sich und anderen war. Doch soll Wittgenstein, das wundersame Genie, auch einmal gesagt haben: «Ich habe glücklich gelebt, wenn mir Grosses gelungen ist.»
* Der Autor war Professor für Philosophie, ehe er sich entschied, als Journalist in die Kriegs- und Krisengebiete dieser Welt zu reisen. Heute ist er zudem Co-Redaktor des Strassenmagazins «Surprise».